Erlebnisse eines Buirer Eisenbahners in seiner 50-jährigen Dienstzeit
von Peter Müllenmeister




Teil 14 - Sept. 45,
a) Wanderung und Fahrt von Sachsen nach Buir
b) Errichtung unserer Dienstwohnung im Bahnhofsgebäude Buir.




Als ich nun in Arzberg war, planten meine Frau, meine beiden Kinder, ich und meine bei uns wohnende Schwägerin mit 2 Kindern den Abmarsch nach Haus zum Westen. Bei einem Schreiner hatten wir uns zwei kleine Fahrzeuge (Wagen) anfertigen lassen, um unser Gepäck, einige Säcke mit Bettzeug, Decken und Kleider befördern zu können, um unter Stacheldraht durchfahren zu können. Mit einem Pferdefuhrwerk fuhren wir eines Tages nach Torgau. Die Russen ließen zufällig Zivilpersonen über die Elbenotbrücke passieren, sonst hätten wir dort schon längeren Aufenthalt haben können. Von Torgau fuhren wir in einem Personenzug über Halle nach Heiligenstadt, Die Stadt war von Flüchtlingen überfüllt, weil die Russen einige Tage lang niemand mehr über die Grenze zum Westen gehen ließen. Acht Tage bleiben wir dort. Ich ging täglich mehrere Kilometer in die Umgebung von Heiligenstadt, um Lebensmittel für unsere Gruppe zu betteln oder zu organisieren.

Als wir am zweiten Tag in der Nähe des Bfs Heiligenstadt waren, trafen wir (wie ein Wunder) eine zweite Schwägerin von uns mit ihrem 13jährigen Sohn, die auf dem Wege von Buir nach Beilrode waren (3 km von Arzberg entfernt), wo sie bis Mai evakuiert waren, um dort Kleider und Bettzeug zu holen, weil sie in Buir ihr Haus zerbombt und leer angetroffen hatten. Nun erfuhren wir alles über die Zustände in Buir. Diese Schwägerin war vor dem Einrücken der Russen mit ihrer Mutter, zweijährigen Zwillingen und dem 13-jährigen Sohn geflüchtet. Sie kamen damals bis zur Elbe und wurden von deutschen Soldaten mit Schlauchbooten übergesetzt. Zuerst wurden Frauen mit Kindern, anschließend andere Flüchtlinge übergesetzt. Durch diese Maßnahme wurden Mutter und Tochter voneinander getrennt. Die Mutter hatte 2 Koffer mit Kindersachen, Wäsche und Bekleidung bei sich, die Tochter hatte die Kinder ohne jegliche Sachen. Durch die starke Strömung der Elbe wurde das Boot bis zum anderen Ufer mehrere 100 m weit abgetrieben, so daß die Familie nicht mehr zusammenkam und getrennt den Weg nach Buir unternehmen mußte. Unter großen Strapazen und Entbehrungen kam die Tochter nach 3 Monaten in Buir an. Die Mutter kam später an. Diese Schwägerin holte später in Beilrode ihr zurückgelassenes Gepäck und traf uns dort.

In Heiligenstadt gab es ale möglichen Gerüchte über das Öffnen des Schlagbaumes an der Grenze, aber es geschah an den Tagen nichts. Wir übernachteten in einer Nacht in einem Saal, eine andere Nacht in einem Fabrikraum, eine weitere Nacht in der Toreinfahrt eines Krankenhauses und mehrere Nächte in einer Baracke. Am dritten Tag unseres Aufenthaltes in Heiligenstadt kam meine Schwägerin mit ihrem Sohn aus Beilrode nach Heiligenstadt zurück, um nach Buir zu reisen. Sie hatte einige Säcke voll von ihrem Habe gepackt und wunderte sich, daß wir noch nicht weg waren. Wir planten nun alle zusammen den Rückmarsch auf eigene Faust zu unternehmen. Zunächst mußten wir das gesamte große Gepäck irgendwo abstellen, weil man nur mit kleinem Handgepäck weiterkam. Bei einer Steinmetzfirma in der Nähe des Bfs Heiligenstadt wurde uns ein Schuppenraum zugewiesen, wo wir alle unser Gepäck in einer Ecke hochstapelten. Der Inhaber lehnte jede Haftung ab, so ließen wir alles auf „Gut Glück“ dort stehen.

Nachdem wir das Notwendigste für die Reise in keine Koffer umgepackt hatten, begaben wir uns, 3 Frauen, 5 Kinder und ich als einziger Mann zu Fuß weiter in Richtung Arenshausen an der Zonengrenze. Dort haben wir zwei Nächte in einem Bauerngehöft übernachtet, um uns zu orientieren, wie man über die Grenze zum Westen kommen konnte. Einige von uns schliefen auf einem Heustall, zwei Kinder auf dem Zelttuch eines Selbstbinders. In Richtung Zonengrenze (Weideland) waren russ. Soldaten mit Masch.-Pistolen postiert, die jeden zurücktrieben, der in dieses Gebiet kam. Bis zur Zonengrenze ca. 500 m weit sah man nur Wiesen und Weiden mit Stacheldraht eingezäunt. Eines Tages sprach ein Russe uns an, er würde uns für eine Uhr abends bei Dunkelheit über die Grenze laufen lassen. Er zeigte uns auf seiner Uhr die Zeit 22 Uhr. Wir wurden uns einig, an dem Abend loszugehen. Ich hatte alles gut versteckt, Uhren, Ringe usw., nur die Armbanduhr meines Sohnes hatte ich griffbereit und wollte diese opfern für den Grenzübergang. Pünktlich um 22 Uhr ging unsere Gruppe los. Ich mußte an den Zäunen die Stacheldrähte hochhalten, bis die 3 Frauen mit den 5 Kindern durchgekrochen waren. Bis zum Grenzstacheldraht war dieses Experiment 8-10 mal notwendig. Wir sahen keinen einzigen Russen im russ. Gebiet und wunderten uns hierüber. Als wir den Grenzraum überschritten hatten, kamen einige Russen, die sich jenseits ihrer Grenze im Niemandsland (ein 50-100 m Streifen) aufhielten, um Flüchtlinge zu plündern. Hierbei mußte ich meine Uhr und andere Sachen abgeben. Die Kinder schrien vor Angst, eine Schwägerin weinte, weil ihr bißchen Hab und Gut auf der Erde zerstreut lag, als der Russe ihre Pakete durchwühlte und sie ihre Sachen in der Dunkelheit nicht mehr zusammen finden konnte. Mir war daran gelegen, möglichst schnell aus dem Bereich der Russen fortzukommen.

Bei Morgengrauen erreichten wir das engl. besetzte Gebiet. Hier standen Frauen, die von den Russen vollständig ausgezogen wurden und notdürftig bekleidet waren. Anderen Leuten war alles abgenommen worden und sie hatten alles verloren. Nach allem, was in der Nacht geschehen war, waren wir froh, keinen Russen mehr zu sehen. Im Laufe des Vormittags gingen wir weiter in das engl. besetzte Gebiet. Dort wurden wir von Engländern mit Lkw abgeholt und kamen in ein Flüchtlingslager bei Duderstadt. Dort wurden wir entlaust und verpflegt. Am nächsten Tag sind wir in Duderstadt verladen worden und fuhren in Güterwagen mit einem Flüchtlingszug ab. Alle waren froh, daß es gegen Westen ging und wir fort von den Russen waren.

Am anderen Morgen hielt der Zug in Osnabrück an. Durch meine Eisenbahn-Verkehrsgeografie-Kenntnis wußte ich, daß man von hier zum Norden Deutschlands kommen könnte. Der Zug hatte hier Lokwechsel. Ich trug Eisenbahnuniforum und erkundigte mich bei dem Aufsichtsbeamten nach dem Ziel des Flüchtlingszuges. Da ich von diesem keine ausreichende Auskunft erhielt, sprach ich mit einem Rangiermeister, er möge sich nach dem Reiseziel des Zuges erkundigen. Später erfuhr ich, daß der Zug „Emden“ als Ziel hatte. Dem Rangiermeister sagte ich, wir wollen zum Westen in die Kölner Gegend. Er entgegnete mir, da können sie nicht hin kommen, denn es besteht eine Sperre nach Köln, wegen Seuchengefahr. Weil die eine Schwägerin von uns vor wenigen Tagen von zu Hause (Buir) gekommen war, wir daher die Verhältnisse von Buir kannten, sagte ich ihm, wir wollen nicht in ein Lager. Er riet mir, zu einem Bahnsteig zu gehen, dort führe später ein Kohlenzug ein, der ins Ruhrgebiet führe. Ich sollte mit dem Aufsichtsbeamten sprechen, vielleicht dürften wir mit dem Kohlenzug weiterfahren. Meine Angehörigen verständigte ich, wir stiegen aus dem Flüchtlingszug aus und gingen zu dem Bahnsteig, wo der Leerzug halten sollte. Nach wenigen Stunden lief der Kohlenleerzug ein.

Der Flüchtlingszug war inzwischen abgefahren. Ich öffnete als Eisenbahner die Tür eines Wagens, half den Frauen und Kindern beim Einsteigen und schloß die Tür ordnungsgemäß. Dann kletterte ich über die Puffer und Kopfwand auch in den Wagen. Wenig später fuhr der Zug ab und wir kamen am Spätnachmittag auf einem Essener Bf an. Mit Regelzügen fuhren wir später über Duisburg-M.-Gladbach nach Aachen. Dort haben wir eine Nacht in einer Nadelfabrik übernachtet und fuhren am nächsten Morgen von Aachen über Düren nach Elsdorf (Rhld), weil die Kölner Strecke von Düren nach Buir noch nicht im Betrieb war. Von Elsdorf gingen wir die 8 km bis Buir zu Fuß. Als wir den Buirer Wald erreichten, wo wir alle bekannt waren, war die Freude groß. Doch zu Hause sah es trostlos aus.

In unserer Wohnung am Bf Buir waren nur 2 Zimmer bewohnbar, jedoch von einem fremden Eisenbahner in Beschlag genommen. Von Möbeln, die ich in den letzten Kriegsmonaten mit Kollegen in den Keller geschafft hatte, fanden wir später nur beschädigte Reste und mußten alles wieder neu anschaffen. Nun kehrten wir in das Heimathaus meiner Frau in der Voigtstr. ein, in dem eine Schwester meiner Frau wohnte und blieben dort so lange, bis ich am Bf einige Zimmer bewohnbar gemacht hatte. Mühsam mußte ich Handwerkzeug und Material besorgen, um die Reparatur durchzuführen, um einige Zimmer behelfsmäßig bewohnbar zu machen. Einige Glasscheiben aus Bilderrahmen wurden mit Brettern ins Fenster gebaut, um etwas Licht im Zimmer zu erhalten. Aber es gab kaum einen Nagel, viel weniger Werkzeug und Baumaterial für diese Arbeiten.

Als wir in unsere alte Wohnung im Bfs-Gebäude eingezogen waren, übernahm ich die Leitung des Bfs wieder und begann mit Kollegen die Aufräumungsarbeiten. Der Bf Buir wurde damals dem Eisenbahn-Betriebsamt Euskirchen zugeteilt. In jedem Monat fand eine Dienststellenleiterbesprechung statt. Um pünktlich um 8 Uhr in Euskirchen zu sein, mußte ich am Abend vorher nach Düren fahren, weil die Zugverbindung schlecht war. In Düren übernachtete ich bei Verwandten und fuhr morgens mit dem ersten Zug nach Euskirchen.




15. 1. Fahrt schwarz über die Zonengrenze in die Ostzone
.....zum Abholen unseres Gepäcks Sept./Okt. 1945

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