Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



IX. Die Personalverfassung einer Tuchfabrik um 1895


Überblick

Wir betrachten nach mündlichen Auskünften eine relativ große Fabrik, die 100 - 120 Menschen beschäftigte. Dabei sind wieder vereinfachend Abteilungen zusammengefaßt. Zunächst die Hilfsgewerbe. In der Spinnerei arbeiteten unter einem Spinnmeister einschließlich der Maschinenpützer rd. 50 Mann, darunter 20 - 30 weibliche Arbeiter. In der Appretur gab es einen Meister im Angestelltenverhältnis, der die Maschinen einstellte, und 4 - 5 Mann, die sie bedienten, dazu einen Kardensetzer. In der Wolke gab es einen Noppmeister mit 8 - 10 Nopperinnen, in der Färberei einen Färbmeister mit 8 - 10 Arbeitern. Schließlich waren noch zwei Schlosser am Dampfkessel und zwei maurer im Betrieb beschäftigt. Zu größeren Reparaturen an Maschinen wurde aber ein Schlossermeister aus der Stadt hinzugezogen. Der größere Teil der Arbeiterschaft bestand also aus Taglöhnern, die zwar ihre Handgriffe an den Maschinen kannten, im übrigen aber als „ungelernte Arbeiter“ galten. Nun muß man allerdings berücksichtigen, daß sie oft ein Leben lang im Tuchgewerbe arbeiteten und daß der Werkstoff, den sie bearbeiteten, die Wolle, fast wie ein Lebewesen auf seine Behandlung reagiert. So kommt es, daß im Laufe der Zeit viele Arbeiter eine besondere Eigenart und Fertigkeit im Umgang mit ihrem Werkstoff entwickelten, die dann auch von Arbeitsherrn und Kollegen hochgeschätzt wurde.


„Am Selfaktor“


Die einzelnen Abteilungen

Die Meister in diesen hilfsgewerblichen Abteilungen hatten, wie die Aufzählung oben schon zeigt, sehr unterschiedliche Stellungen inne. Der Färbmeister war angestellt und erhielt Wochenlohn. Er hatte ein Pult in der Färberei stehen. Den entscheidenden Arbeitsvorgang beim Färben, das Einlassen der Wolle in die „Küppe“, d.i. der Färbkessel, nahm er selbst vor. Der Noppmeister war ebenfalls angestellt, manchmal „überzog“ er gemeinsam mit dem Webmeister, d.h. er prüfte die von Webstühlen kommenden „rohen Stücke“ auf die gröbsten Fehler, die dann in Nopperei und Stopferei von den weiblichen Arbeitern mit Nadel und Faden behoben wurden, wofür er verantwortlich war.

In der Appretur geht das Verhältnis Meister - Arbeiter unklar durcheinander. Im Bürgermeisterbericht von 1861 (Stadtarchiv A. 423) wird unter den Beispielen zur Mechanisierung berichtet, daß statt eines „vorsichtigen Walkmeisters“ nun nur ein Fabrikarbeiter zu Aufsicht nötig sei, der keiner besonderen Kenntnis bedürfe. Ob das stimmt, sei dahingestellt, jedenfalls hieß dieser Mann, der bloß einen Gehilfen hatte, noch Walkmeister. Ob er angestellt war, ist nicht ganz sicher. Ein Fabrikant erzählte aus der Appretur eine bezeichnende Anekdote: Bei einem Streit unter zwei Arbeitern, wer nu eigentlich der Meister sei, habe der Fabrikherr entschieden: „Du bist Meister an deiner Maschine, und du bist Meister an deiner Maschine!“ Diese Arbeiter legten sich die Bezeichnung „Meister“ im laufe der Zeit selbst zu, ohne daß ihnen das verwehrt wurde. Sie hatten aber höchstens die Stellung eines Vorarbeiters.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Spinnmeister. Die Spinnerei war das Hilfsgewerbe, das die ersten Fabriken im modernen Sinn ausbildete und das sich dann auch am längsten selbständig hielt. So hob sie sich nach ihrer Eingliederung in die Volltuchfabrik noch am deutlichsten als relativ selbständige Abteilung ab. Das war allein schon bedingt durch ihre große Arbeiterzahl. Dementsprechend gehoben war auch die Stellung des Spinnmeisters. So finden wir inder Einwohnerliste von 1855 (Stadtarchiv A. 4117) schon einen Spinnmeister Arnold Küpper, bei dem aber ausdrücklich vermerkt steht: „Spinnmaschine von Ruhr“. Und auch in der Liste von 1864 (Stadtarchiv A. 4116) finden sich mehrere Spinnmeister, während die Bezeichnungen für andere Fabrikmeister kaum noch vorkommen. Es scheint also, daß die Spinnmeister die einzigen unter den Fabrikmeistern gewesen sind, deren Stellung sich auch außerhalb des Betriebes noch geltend machte. Dem widerspricht nicht, daß die zentrale Bedeutung in der Volltuchfabrik der Weberei zukommt. In den kleineren Fabriken übte nämlich der Fabrikherr meistens selbst die Funktionen eines Webmeisters und dann auch die eines Noppmeisters aus. In der von uns beschriebenen größeren Fabrik arbeiteten rd. 30 Weber unter einem angestellten Webmeister, dem einige Musterweber und ein „Stuhlsteller“ ebenfalls schon angestellt zur Seite standen.

Vor den Taglöhnern waren die Weber deshalb bevorzugt, weil sie „auf den Schuß“, also im Akkord, bezahlt wurden. Dann haben bestimmt noch handwerksmäßige Vorstellungen eine Rolle gespielt, z.B. wurden, al die Handwebstühle längst keine Bedeutung mehr besaßen, die jungen Weber dennoch auf ihnen angelernt, ehe sie an einen mechanischen Stuhl gestellt wurden. Ferner heißt es, gute Weber seien stadtbekannt gewesen, sie wurden von ihren Arbeitsherrn im Betrieb festgehalten, während man auf die Taglöhner, deren man genug haben konnte, keinen so großen Wert legte.


Ausbildung - Meister - Direktor - Kontor - Ausnahmen

Was es an fachlichem Können zu erlernen gab, das wurde noch lange Zeit rein empirisch innerhalb des Betriebes geleistet. Das war deshalb möglich, weil sich das Militärtuch immer gleich blieb. Sobald man sich aber an feineren Stoff wagte, dann zeigten sich Mängel. Darüber heißt es 1884 in einem bürgerlichen Quartalsbericht: „Ein großes Hindernis ist aber noch das, daß die Arbeiter zu wenig geschult sind. Es ist niemals ein Werth auf die Weiterbildung der Arbeiter gelegt worden, so daß ihre Leistungen beim besten Willen einseitig und beschränkt bleiben.“ (Stadtarchiv A. 414). Man sieht, daß der in dem Bericht von 1861 (Stadtarchiv A. 423) geäußerte Optimismus, die Technik mache handwerkliches Können überflüssig, doch etwas einseitig war. In der Tuchmacherei muß jeden Tag hinzugelernt werden. Um nun damals den Mißständen abzuhelfen, sollte eine „sogenannte niedere Webeschule“ (Stadtarchiv A. 414) in Euskirchen errichtet werden, doch dazu ist es nie gekommen. Dagegen müssen um diese Zeit Fachleute zugezogen sein, mit denen hier und da Meisterstellen besetzt wurden. Es handelt sich um Webmeister und Spinnmeister aus der Gegend von Sedan, Elboeuf und aus Aachen und Eupen. Doch blieben die aus der einheimischen Arbeiterschaft aufsteigenden Meister durchaus in der Mehrzahl.

Den Meistern, die in größeren Betrieben an entscheidender Stelle eingesetzt waren, wird bis in unsere Zeit bestätigt, sie hätten die Betriebe im technischen Stand und in der Ausbildung der Arbeiter hochgebracht. Ihr Verantwortungsgefühl und ihre Anteilnahme am ganzen Betrieb müssen außerordentlich groß gewesen sein. Wann die Meister zuerst ins Angestelltenverhältnis traten, ist nicht festzustellen. Innerhalb des Betriebes waren sie bis in 20. Jahrhundert hinein unmittelbar dem Fabrikherrn unterstellt. Wann ein Direktor zwischen Fabrikinhaber und Meister eingeschaltet worden ist, läßt sich auch nicht genau sagen. Es hat Direktoren jedenfalls bei einigen größeren Betrieben schon zwischen 1895 und 1910 gegeben. Ihre Aufgabe bestand damals (wie auch heute noch) darin, den Inhaber bei der Leitung seines Betriebes zu unterstützen, aber nicht darin, ihn zu ersetzen. Der Fabrikinhaber behielt sich selbst die Oberleitung über alles vor, er befand sich den ganzen Tag im Betrieb und konnte auch einmal Hand anlegen, wo Not am Mann war.

Das „Kontor“ bestand in unserer beschriebenen Fabrik aus einem angestellten Schreiber und einem Sohn des Fabrikanten. Anfangs zahlte der Fabrikherr den Arbeitern den Lohn aus, indem er rund durch den Betrieb ging. Später standen die Arbeiter samstags Schlange zum Lohnempfang. Seit etwa 1889 führten einige größere Tuchfabriken (Stadtarchiv A. 385 u.a.m.) Schreibpapier, auf das Name und Ort sehr einfach als Kopf gedruckt waren. Das hebt sie sehr ab von anderen, inzwischen in der Stadt entstandenen Industrien, die auf ihre Schreibbögen einen Kopf im Stile der Zeit von überquellender Geschmacklosigkeit drucken ließen. Die meisten Tuchfabrikanten reichten aber im Schriftverkehr mit dem Rathaus einfaches Briefpapier herein. Von ihren Kontors wird berichtet, sie hätten noch in den 90er Jahren aus einigen Mappen und einem Tintenfaß bestanden, mit denen sich gegebenenfalls der Fabrikherr befaßt habe.

Von der hier skizzierten Menschenordnung der Euskirchener Tuchfabriken kenne ich nur zwei Ausnahmen. Im ersten Fall handelt er sich um die in Wißkirchen bis zum ersten Weltkrieg bestehende Spinnerei der Gebr. Fischer, die von einem Meister geleitet wurde, während der Inhaber in der Stadt wohnte, nur ein- bis zweimal in der Woche bei dem Meister erschien, weder die Arbeiter kannte, noch etwas vom Gewerbe verstand. Bezeichnenderweise besaß er ein Spinnerei, der ein Spinnmeister aus Eupen vorstand, und ebenso bezeichnenderweise wurden die „Fischer“, die auch evangelischer Konfession waren, in den Einwohnerlisten immer mit der Berufsangabe „Kaufmann“ geführt, obwohl sie schon 1838 im Besitze einer Spinnerei waren (Renelt S. 41).

Bei der zweiten Ausnahme handelt es sich um die Tuchfabrik Koenen in Kuchenheim, die nach Angaben der Besitzer „schon immer“ Ziviltuch und nur unter zwang Militärtuch hergestellt hat. Dadurch war der ganze Betrieb straffer durchorganisiert als die Euskirchener, es gab schon sehr früh Direktoren und über den Meistern Abteilungsleiter mit genau festgelegten Kompetenzen. Im übrigen unterschied sich aber das Verhältnis der Fabrikinhaber zu ihren Arbeitern nicht von dem in Euskirchen.


Fabrikherr und Arbeiter

Bei diesem Verhältnis wollen wir noch einen Augenblick verweilen. Der Fabrikherr redete Meister wie Arbeiter mit dem Vornamen und mit Du an. Das war nicht als Degradierung gemeint und hörte sich in der plattdeutschen Umgangssprache auch gar nicht so an. Es war vielmehr ein Überbleibsel aus patriarchalischen Vorstellungen, wie es deren noch viele gab. Dafür sprechen Einzelzüge aus dem täglichen Umgang des Fabrikherrn mit seinen Arbeitern. Für unbeholfene Arbeiter erledigte er z.B. alle Formalitäten der Altersversicherung usw. wie überhaupt des Behördenverkehrs. Baute ein Arbeiter ein Haus, und das taten sehr viele in der Stadt wie auf den Dörfern, so lieh der Fabrikherr Geld, manchmal, wie berichtet wird, ohne irgendeine Quittung zu verlangen. Nach Renelt (S. 99) haben sich die Fabrikanten in den 90er Jahren auch durch Unterstützung von Baugesellschaften am Arbeiterwohnungsbau beteiligt. Abe schon 1864 werden neugebaute Arbeiterwohnungen erwähnt (Stadtarchiv A 3539). Es scheint mir, obgleich sich das schwer nachprüfen läßt, daß die Fabrikanten mehr dem einzelnen Arbeiter, der ein eigenes haus besitzen wollte, geholfen haben; man dachte noch nicht in Organisationen.

Es konnte auch umgekehrt vorkommen, daß der Fabrikherr in finanzielle Schwierigkeiten geriet und sich Geld lieh, nach der einen Auskunft bei einem seiner Weber, der über etwas Vermögen verfügte, nach der anderen bei einem Bauern in der Nachbarschaft seiner Fabrik. Bis in die 90er Jahre gab es übrigens noch Fabrikanten, die nebenbei etwas Ackerschaft besaßen, was ja 1852/55, wie die Einwohnerlisten zeigen, noch allgemein üblich gewesen war.

In diesen Einwohnerlisten und in den Akten dieser jahre begegnen uns auf Schritt und Tritt Namen von Tucharbeitern, deren Nachkommen heute nach hundert Jahren, also in der vierten oder fünften Generation, noch bei den Nachkommen der damaligen Tuchfabrikanten der gleichen Generation arbeiten. Dementsprechend stark ist die Werkstreue, die eine langjährige Arbeitszeit in einem Betrieb heute wie damals fast zur Regel macht.


Die Fremdbestimmung in den Fabriken

Nach dieser Betrachtung der Betriebsverfassung scheint es angebracht, das Ergebnis unter dem Begriff der „Fremdbestimmung“ des Arbeiters zusammenzufassen. Mit diesem Begriff meint man seit Götz Briefs und E. Michel einen bedeutenden Problemkreis, der inder Neuzeit und besonders durch die „industrielle Arbeitswelt“ entstanden ist. Unter Fremdbestimmung kann der Arbeiter mindestens in vierfacher Hinsicht stehen:

  1. Er ist wirtschaftlich unselbständig und abhängig vom Unternehmer. Das liegt, als ein Kennzeichen von Industrie überhaupt, selbstverständlich in Euskirchen vor.

  2. Arbeitgeber und Arbeitnehmer kenne sich kaum oder gar nicht. Der Arbeiter ist abhängig von unbekannten Instanzen, die Ursachen dazu können mannigfacher Art sein. Diese Art von Fremdbestimmung lag in Euskirchen nicht vor, da die inner- und überbetrieblichen Verhältnisse überschaubar blieben und eine einheitliche Umwelt die Klassengegensätze mäßigte.

  3. Die Arbeiter sind sich untereinander fremd. Auch dies war in Euskirchen natürlich nicht der Fall.

  4. Der Arbeiter bleibt der Arbeitsstätte und der Arbeit selbst innerlich fremd, er findet nicht den inneren Einklang mit ihnen. Das ist natürlich sehr schwierig festzustellen. Es sei noch einmal auf die aus dem Handwerk entstehenden Industrien eigne „Humanisierung des Technischen“ und auf den noch gewisse Eigenschaften des Organischen bewahrenden Arbeitsstoff, die Wolle hingewiesen. Zur Arbeitsstätte mag eine langjährige Gewöhnung oder das Mitbauen daran, das weitgehend üblich war und mit Stolz berichtet wird, ein inneres Verhältnis geschaffen haben. Wie dem auch sei, im Problemkreis der Fremdbestimmung geht es jedenfalls zunächst um konkrete gesellschaftliche und wirtschaftliche Zustände und nicht um psychosomatische Veränderungen im Menschen. Was wichtiger ist, vermag ich nicht zu sagen.


Viele Frauenhände regen sich in einer Tuchfabrik. Hier ein Blick auf die Nopperei, wo kleinere Fehlstellen im noch unfertigen Tuch ausgemacht werden.


Frauenarbeit - Dörfliche Arbeiter

Wir müssen nun noch das Bild der Euskirchener innerbetrieblichen Zustände durch einige Einzelzüge abrunden. Die Kinderarbeit, die, wie wir wissen, um 1840 sehr zurückging, fiel nachher überhaupt nicht mehr ins Gewicht (vgl. Renelt S. 85 ff.). Dagegen wächst die Frauenarbeit im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts immer mehr an. Die Frauen arbeiteten hauptsächlich in der Spinnerei. Für das jahr 1914 gibt Renelt (S. 85 ff.) die Zahl von 1043 männlichen und 170 weiblichen Arbeitern in den Euskirchener Tuchfabriken an. Jedoch dürfte in den größeren Tuchfabriken der Anteil der weiblichen Arbeiter schon damals und schon früher rd. Ein Drittel betragen haben. Dieser Hinweis auf die Frauenarbeit möge genügen, nicht weil ich ihre sehr vielschichtige inner- wie überbetriebliche Bedeutung unterschätzte, aber eine genaue Darlegung würde den Rahmen dieser Unterstützung sprengen. Das gleiche gilt, wenn man der an sich sehr verlockenden Frage nachginge, worin sich die vielen auf den stadtnahen Dörfern wohnenden Arbeiter von den „Städtern“ unterschieden, und wie sei umgekehrt auf ihre dörfliche Umwelt einwirkten.

Wir wenden uns aber nun den sozialen Bestrebungen und Unruhen zu, die, nur mittelbar, vom innerbetrieblichen Leben abhängig, in dieses hineinwirkten. Wir unterscheiden dabei zwei Gruppen, die mehr sachlich und die mehr politisch-weltanschaulich bestimmten. Freilich ist das eine Trennung mit der Axt, die Dinge sind verzahnt miteinander, aber ein gewisses Recht zu dieser Einteilung besteht der Zeit und der Sache nach doch.


X. Soziale Bestrebungen der Stadt, des Staates und der Unternehmer

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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