Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



X. Soziale Bestrebungen der Stadt, des Staates und der Unternehmer


Die Krankenkasse

Wir haben schon eine wesentliche Maßnahme in anderem Zusammenhang kennengelernt, nämlich die Errichtung einer „Kranken- und Hülfs-Kasse der Tuchmacher“ im Jahre 1856. Schon seit 1850 hatte eine freiwillige „Kranken- und Sterbekasse“ in der Stadt bestanden, der beizutreten die Innungsmitglieder abe verpflichtet waren (Renelt S. 91). Aber das waren ja die selbständigen Meister und nicht die Arbeitnehmer. Für diese sollte aus der Innung heraus eine beitrittspflichtige Krankenkasse entstehen, so war die Absicht des Bürgermeisters Peter Josef ruhr. Als er jedoch die Innung gleich von Anfang in die Krise geraten sah, nahm der Bürgermeister es wieder selbst in die Hand, die Kasse zu gründen und setzte sie in mehrjährigen Verhandlungen gegen viel Unverständnis und Widerstand durch (Stadtarchiv A. 284).

Diese Verhandlungen beweisen, daß es in Euskirchen mit der sozialen Aufgeschlossenheit vieler sowohl größerer Fabrikanten als auch kleiner Tuchmacher nicht weit her war. Andererseits zeigten auch die Arbeiter, teilweise wohl von ihren Brotherren beeinflußt, wenig Teilnahme an der für sie doch notwendigen Einrichtung. Die schon besprochene Vermengung des Innungsstreites mit dieser sozialen Bestrebung hat deren eigentlichen Sinn gewiß nicht wenig zurücktreten lassen. Um so höher ist da der soziale Weitblick des Bürgermeisters und des ersten Rendanten der Kasse, des Fabrikanten Caspar Lückerath, zu bewerten, die, mit einem vagen staatlichen Wohlwollen im Rücken und sonst ganz auf sich gestellt, sich an diese für Euskirchen völlig neuartige Gründung wagten, nicht nur den schier entmutigenden Unverstand der zahlreichen Gegner bezwingen, sondern auch selbst um eine möglichst klar und gerechte Sinngebung ringen mußten.

Schließlich gelang es ihnen doch, am 4.4.1856 wurde in Anwesenheit von 48 Arbeitern die Kasse gegründet. Zwar war der Vorstand noch nicht vollzählig beisammen, wurden kaum Arbeiter angemeldet, aber alles spielte sich langsam ein. Die Einzelheiten der Beiträge und Auszahlungen, die für die damalige Zeit sehr ordentlich waren, möge man bei Renelt (S. 94 ff.) nachlesen. Der Bürgermeister hielt monatlich Revision beim Rendanten; er hatte überhaupt kommissarische Rechte, falls der Vorstand versagte. Die Kasse scheint in ihren ersten Jahrzehnten vom Bürgermeister und vom Rendanten allein aufrecht erhalten worden zu sein, die meisten Fabrikanten zeigten wenig Interesse, manche, besonders kleinere Tuchmacher, machten immer wieder Schwierigkeiten mit der Beitragszahlung und der Anmeldung der Arbeiter, so daß sie manchmal zu ihrer Pflicht polizeilich oder durch Entziehung der Militärtuchaufträge gezwungen werden mußten.

Im allgemeinen scheint aber Arbeitgebern wie Arbeitnehmern die Kasse bald selbstverständlich geworden zu sein. Diese Krankenkasse der Tuchmacher hat dann bis an den ersten Weltkrieg bestanden. In den 90er Jahren wurde sie mehrfach mit bedeutenden Stiftungen einiger Fabrikanten ausgestattet. (vgl. Renelt S. 96 u. Stadtarchiv A. 283 u.a.m.) Inzwischen hatten sich Zahlungsbedingungen, Funktion und das Ansehen der Kasse natürlich im Weitergang der zeit geändert. Aus den Stiftungen des Fabrikanten Philipp Jakob Weber (Renelt S. 99) wurden an Mitglieder bei der Geburt eines ehelichen Kindes 50 mark ausgezahlt. Von 1880 bis 1889 bestand als einzige mir bekannte Betriebskasse der Euskirchener Tuchindustrie eine „Unterstützungskasse für die Meister, Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrikanten Schiffmann & Ruhr und Wolfgarten & Ruhr“ (vgl. Renelt S. 96 u. Stadtarchiv A. 283 u.a.m.). Wann die Tuchmacherkasse in die allgemeine Ortskrankenkasse übergeführt worden ist, habe ich nicht genau feststellen können.


Die staatliche Gesetzgebung und ihre städtischen Vorformen

Inzwischen waren die damals vorzüglichen Sozialgesetze des Reiches in Kraft getreten, 1885 das Krankenversicherungsgesetz, 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das Gesetz der Invaliditäts- und Altersversicherung, die eine eigene Initiative der Fabrikanten oder der Stadt in dieser Richtung weitgehend überflüssig machten. Man sieht aber, daß in Euskirchen schon seit rund 30 Jahren brauchbare Vorformen dieser Gesetze bestanden, so daß diese, ohne tiefergehende Veränderungen hervorzurufen, in der Euskirchener Tuchindustrie gleich wirksam werden konnten. Ähnlich verhielt es sich mit vorausgegangenen sozialen Bestimmungen des Staates, der Beschränkung der Kinderarbeit (vgl. Renelt S. 85 f.), im Jahre 1853, dem Verbot des Trucksystems, d.h. der Lohnauszahlung in Werkstoff 1849 (Renelt S. 85), dem Verbot der Sonntagsarbeit 1886 (vgl. Stadtarch. A. 3523), in jedem Fall brauchten diese Mißstände in Euskirchen nicht gesetzlich unterdrückt zu werden, sie waren meist gar nicht vorgekommen.

Für die Stadt gab es jedoch manchmal Anlaß, in die Industrieverhältnisse einzugreifen, so im dargelegten Innungsstreit. Überhaupt spielte das Rathaus immer eine Vermittlerrolle zwischen der Militärintendantur und den Fabrikanten. In Notzeiten unterstützte die Stadt die Arbeiter, so z.B. im Winter 1867/68, als sie im Marienhospital eine Suppenausgabe für Fabrikarbeiter einrichtete (Stadtarchiv A. 411). Als sicher ist anzunehmen, daß auch die einzelnen Arbeitsherren in Notzeiten ihre Arbeitgeber materiell unterstützten. Es scheint sogar organisierte Formen dafür, wenigstens in der Innungszeit, gegeben zu haben, für das Jahr 1856 haben wir einen Hinweis (Stadtarchiv A. 284) auf die gemeinschaftliche „Verabreichung von Roggen“. Von den allerdings viel späteren Stiftungen an die Krankenkasse und vom Arbeiterwohnungsbau sprach ich schon.


Das innere Anwachsen der sozialen Frage

Alle bisher genannten Bestrebungen, die Fremdbestimmung der Arbeiter zu mildern und ihre allgemeine Lage zu verbessern, sind nicht von den Arbeitern selbst ausgegangen, sondern entweder vom Staat oder anfangs mehr noch vom Bürgermeister und einigen Fabrikanten, also von einzelnen, an führender Stelle in der Stadt stehenden Männern, die Verantwortung und Begabung genug besaßen, die neuartigen sozialen Fragen überhaupt zu sehen und anzufassen. Wie groß dabei der Einfluß von außen, besonders nach 1848 gewesen ist, läßt sich schwer sagen. Man darf aber annehmen, daß die Arbeiter sich ihres neuen Standes und ihrer Lage bis an das Ende des 19. Jahrhunderts nicht sehr bewußt gewesen sind, das gleiche gilt von den meisten Arbeitsherren und der Umwelt überhaupt. Die Euskirchener Arbeiterschaft entstand aus zwei Bevölkerungsgruppen, der handwerklichen und der agrarischen, die anfangs beide sehr eng verbunden waren, während der Zustrom zur Industrie aus der agrarischen nachher immer mehr anwuchs.

In beiden Gruppen hatte man unter patriarchalischen Verhältnissen, also in einer strengen Unterordnung einerseits und einer väterlichen Bevormundung andererseits gelebt. Nun legte die relativ abgeschlossene Umwelt der Kleinstadt und der umliegenden Dörfer es besonders nahe, diese Verhältnisse in die neuen Industriebetriebe zu übernehmen, sie gewissermaßen ins Große zu projizieren. Es war den Arbeitern anfangs selbstverständlich, wenigstens den Taglöhnern, daß sie bevormundet wurden, und man braucht das durchaus nicht nur negativ zu bewerten. Die Akten und die mündlichen Auskünfte bestätigen es auf Schritt und Tritt. Vielleicht sträubte man sich gegen die Einrichtung der Kasse auch deshalb, weil sie die patriarchalischen Verhältnisse stören mußte.

Aber auch der Bürgermeister selbst traute den Arbeitern dabei noch wenig Mündigkeit zu, und wohl mit Recht. 1855 schreibt er einmal bei den Gründungsverhandlungen: „Im Entwurfe habe ich absichtlich vorh. General-Versammlungen vermieden; in dem diese zu Saufgelagen Anlaß geben.“ Manche der erwähnten sozialen Maßnahmen der Arbeitsherren gehen bis zum Ende des jahrhunderts bestimmt noch auf patriarchalisch motivierte Fürsorge zurück. Aber seit dem Beginn der Industrialisierung ist in jedem patriarchalischen Verhältnis, mag es noch so haltbar scheinen, der Wurm drin. Es hat sich von seiner ureigenen Absicht, nämlich der, die Fremdbestimmung des Arbeitenden gerade zu verhindern, abgewandt und sich damit selbst den Lebensboden entzogen.

Mindestens seit 1831 war auch in Euskirchen die Fremdbestimmung des Arbeiters und ein Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorhanden. Ob die oben befürchteten „Saufgelage“ bei der Krankenkassengründung aus reiner Übermut entstanden wären? Vermutlich stand ein unbewußtes soziales Begehren dahinter. Die Einheit der Gesinnung zwischen Arbeitgeben und Arbeitnehmer wurde dennoch nur langsam abgebaut, erst gegen Ende des Jahrhunderts traten an ihre Stelle gegensätzlich-polemische Haltungen, die von außen herangetragen wurden, aber gewiß dem Bruch, der sich vollzogen hatte und noch weiter vollzog, entsprachen. Die Dinge komplizieren sich nun sehr, weil, man von nun an weltanschauliche und religiöse Momente mit einbeziehen muß, die ja immer nur mit einem Bein in der Arbeitswelt stehen.

Bei dem Bruch bleibt die Frage, ob er die Einheit der Gesinnung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zerstört oder nur gestört hat.


XI. Die soziale Unruhe innerhalb der Arbeiterschaft

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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