Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



V. Der Zustand um die Jahrhundertmitte

Die Jahre von 1852 bis 1856 brachten nun vier entscheidend wichtige Ereignisse: die Wiederherstellung der alten Innung vom Jahre 1706, den Beginn der Militärtuchlieferungen, die Einführung der ersten Dampfkraftmaschine und die Einrichtung einer „Kranken- und Hülfs-Kasse der Tuchmacher“. Alle vier stehen in Beziehung untereinander und ergeben letztlich den endgültigen Übergang vom Handwerk zur Industrie. Zur Darstellung dieses Übergangs benutzen wir zunächst die vier im Stadtarchiv befindlichen Bevölkerungslisten aus den Jahren 1846, 1852, 1855 und 1864 (A. 4113, 4117 und 4116). Ferner einige Zahlenangaben aus einer Liste von 1801 (bei H. Beutin und K. Franzke a.a.o). Die Listen sind nach Straßenzügen und Hausgemeinschaften angelegt. Sie enthalten: Name, Stand oder Gewerbe, Alter, Konfession sämtlicher Einwohner Euskirchens.

Aus ihnen stellen wir zunächst eine Tabelle auf mit einer rohen, für unsere Zwecke genügenden Zählung der hier interessierenden Standesbezeichnungen. Die Tabelle will kein objektives Zahlenmaterial über die Größenverhältnisse der Industrie gewinnen; das kann sie auch gar nicht, denn nicht alle Fabrikarbeiter wohnen in der Stadt und nicht alle Taglöhner arbeiten in der Tuchindustrie. Es kommt ihr vielmehr auf die subjektiven Angaben über den Stand an, die die realen Zustände durch die Auffassung der Zeitgenossen gespiegelt widergeben. Aus den Zahlenverschiebungen will sie auf die Veränderungen der sozialen Struktur und die Auffassung darüber sowie der innerbetrieblichen Menschenordnung schließen. Freilich vermögen dies die Zahlen allein nicht zu leisten.


Jahr

Gesamt-Einwohner

Tuch-Fabrikanten

Tuchmacher

Tuchmacher-gesellen und –lehrlinge

Fabrikarbeiter

Taglöhner

1801

1440

-

14 Meister
dabei 9 Wollenweber

-

-

52

1846

3155

4

51

24

90

m.: 188
ges.: 229

1852
1855
1864

3592
3722
4649

16
5
20

45
50
43

27
7
2

124
34
53

94
194
177


Die Zahl der „Ackerer“ ist dem Augenschein nach von 1846 bis 1864 konstant geblieben. An Spezialberufen und Sonderbezeichnungen aus dem Tuchmachergewerbe sind in keinem Jahr mehr als 10 aufgeführt. Sie lauten etwa „Tucharbeiter“, „Tuchweber“, „Kardensetzer“ u.ä.


Fabrikarbeiter - Tuchmachergeselle - Taglöhner

Betrachten wir nun zunächst das Verhältnis Fabrikarbeiter - Taglöhner. Im Jahre 1852 ist die Zahl der männlichen Taglöhner gegenüber 1846 auf die Hälfte gesunken, die der weiblichen ist verschwindend gering geworden. Wahrscheinlich hängt es zunächst mit der „tagtäglichen“ Vervollkommnung der Maschinerien zusammen, die viele ungelernte Arbeitskräfte überflüssig machten, von den Spuljungen wissen wir es ja. Die Vermutung liegt nahe, daß es also schon in den vierziger Jahren in der Euskirchener Tuchindustrie Frauenarbeit gegeben hat, die dann durch die technische Vervollkommnung vorläufig aufgehoben wurde. Sicher nachweisen läßt es sich nicht.

Die Zahl der Fabrikarbeiter steigt von 90 im Jahre 1846 auf 124 im Jahre 1852 und fällt dann in drei Jahren um ungefähr 100 auf 34. Zur gleichen Zeit steigt aber die Zahl der Taglöhner wieder um 100. Diese auffälligen Zahlenverschiebungen hängen nicht mit Größenveränderungen und der Industrie zusammen, sondern können anders erklärt werden. Offenbar wechseln in jenen Jahren die Berufsangaben vom Fabrikarbeiter zum Taglöhner. Der „Fabrikarbeiter“ ist zum ungelernten „Taglöhner“ hin offen, ist aber auch noch eine konkrete Berufsbezeichnung wie etwa „Weber“. An „Fabriken“ gab es in Euskirchen bis 1856 (vgl. Beutin a.a.o) nur die Manufakturen und Werkstätten der Tuchmacher, und so ist der Euskirchener „Fabrikarbeiter“ auch zum „Tuchmachergesellen“ hin offen, wie einige Beispiele aus den Einwohnerlisten von 1846 und 1852 beweisen mögen. Wir wählen sie so, daß sie uns gleichzeitig schon über die nachher zu besprechenden Arbeitgeber- und Arbeitsverhältnisse Auskunft geben.

Ein „Tuchmacher“ hat in seinem Haushalt nebst Frau und 10 Kindern 2 „Tuchmachergesellen“, 1 Knecht, 1 Magd = 16 Personen. Ein „Tuchfabrikant“ führt nach Frau und Kindern als Nr. 8 einen „Fabrikarbeiter“, als Nr. 9 - 13 zwei Knechte und zwei Mägde auf. Ein „Tuchmacher“ führt in seinem Haushalt zwei Brüder als „Fabrikarbeiter“. Ein „Tuchfabrikant“ führt nach Frau und 5 Kindern 2 „Tuchmachergesellen“, 1 Knecht und 2 Mägde auf.

Man sieht, die Dinge sind im Fluß vom Handwerk zu Industrie, Aber noch wird das Handwerkliche in Euskirchen stärker betont. Bei den Verhandlungen zur Errichtung der „Kranken- und Hülfskasse der Tuchmacher“ (Stadtarchiv A. 284) im Jahre 1855 wird das an die „Königliche Regierung zu Köln“ eingereichte Statut u.a. mit folgenden Korrekturen zurückgesandt. „Die Person, welche im 'Auftrage des Kassenvorstandes die laufenden Geschäfte, soweit solche nicht die eigentliche Kassenverwaltung betreffen, zu besorgen hat, ist nicht „Altgeselle“, sondern „Deputirter des Kassenvorstandes“ zu benennen. Ferner: „Es scheint angemessen überall, wo im Statute die Gesellen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter zusammen aufgeführt werden, die Fabrikarbeiter, welche meistens Familienväter sind, zuerst zu nennen und dann die Gesellen und Lehrlinge folgen zu lassen.“ Die Begründung dafür aus Köln ist nicht stichhaltig, wie auch schon die Beispiele aus den Listen zeigen. Darum geht es aber auch nicht. Die Korrektur an sich beweist, daß man höheren Orts umgekehrt wie in Euskirchen das industrielle und nicht das handwerkliche Element im Vordergrund sieht. Freilich gibt es in Euskirchen eine gewisse, mit der neugegründeten Innung zusammenhängende Tendenz für und wider das Handwerkliche, wie zu zeigen sein wird.

Noch eine bezeichnende Korrektur: Die Personen, die zum Beitritt zur Kasse verpflichtet werden sollten, wurden im Euskirchener Entwurf folgendermaßen gekennzeichnet: „... welche sowohl bei Maschinen als auch in Werkstätten beschäftigt sind ...“ Daran wird von Köln aus bemängelt, daß „diejenigen, welche in ihren Wohnungen arbeiten“, nicht berücksichtigt seien. Aber solche Heimarbeiter hat es damals in Euskirchen offenbar nicht gegeben. Uns kommt es hier darauf an, daß man in Euskirchen nun zwei verschiedene Betriebsformen sieht und auch die Begründung des Unterschieds: „bei Maschinen“ - aber ähnlich wie 1828 / 30 das Neuartige noch nicht genau beim Namen nennen kann.


Tuchfabrikant - Tuchmacher - Fabrikmeister

Das zeigte sich auch deutlich, als man bei der Einrichtung der Krankenkasse aus Beitragsgründen zwischen größeren und kleineren Arbeitgebern unterscheiden mußte. Der Bürgermeister schreibt 1855 während der Verhandlungen an den Landrat: „ich bin von der Ansicht ausgegangen, daß ein solcher Meister, der 10 Arbeiter beschäftigt, so außerdem etwa noch 6 jugendliche Arbeiter: als ein Fabrikant, und jene, welcher weniger Arbeiter beschäftigen, nur als Tuchmacher zu betrachten sind.“ (Stadtarchiv A. 284). Das ist also ein Unterscheidung, die von außen getroffen wurde und die noch nicht wie schon zehn Jahre später auf dem Maschinenstand, sondern auf der Menschenzahl der Betriebe fußt. Aus ihr erklärt sich nun auch der Rückgang der „Fabrikanten“ von 16 im Jahre 1852 auf 5 im Jahre 1855, ebenso dann die große Verschiebung der Zahlenverhältnisse zwischen Taglöhnern und Fabrikarbeiter.

Bezeichnend ist aber, daß die Arbeiter, die nun nicht mehr bei „Tuchfabrikanten“, sondern wieder bei „Tuchmachern“ arbeiten - natürlich sind es dieselben Menschen, nur die Bezeichnungen ändern sich ja - nun aber nicht die Zahl der „Tuchmachergesellen“, sondern die der „Taglöhner“ vermehren. Die Tabelle zeigt vielmehr, wie die Zahl der „Tuchmachergesellen“ zur gleichen Zeit stark fällt; 1864 gibt es deren nur noch zwei. Diese Tuchmachergesellen lebten auch noch bei größeren „Tuchfabrikanten“, wie unsere Beispiele zeigen, im patriarchalischen Familienanschluß. Sie waren klar von den Knechten und Mägden, die wahrscheinlich in der Ackerschaft des Hausherrn arbeiteten, unterschieden, sie arbeiteten in dessen „Fabrik“, daher sie manchmal trotz des Familienanschlusses Fabrikarbeiter genannt wurden. Vielleicht hatten sie in manchen Fällen die Funktion eines Vorarbeiters oder eben „Altgesellen“. Man sieht also das Nebeneinander von alten und neuen Formen des Gewerbes nicht nur in der verschiedenen Größe der Betriebe, sondern auch innerhalb der größeren „Etablissements“ selbst.


An der Zwischenstufe der Garnerzeugung (Krempelsatz)


Wir dürfen für den Anfang der 50er Jahre einige Betriebe mit einer Belegschaft von je 30 - 40 Mann annehmen (Renelt S. 19). Bei der Verarbeitung der Rohwolle zum verkaufsfertigen Tuch darf man etwas willkürlich drei Hauptphasen unterscheiden, denen drei Hauptgewerbe entsprechen: die Spinnerei, Weberei und Appretur. Vor und hinter diesen Hauptphasen liegen noch zahlreiche Zwischenstufen der Produktion, vor der Spinnerei liegt z.B. die Wollbereitung, hinter der Weberei z.B. Nopperei und Stopferei, wo die kleinen Webfehler in den Tuchen mit Nadelund Faden beseitigt werden; innerhalb der Appretur gibt es die Naß- und Trockenappretur; innerhalb deren die Rauherei usw. In der Färberei werden sowohl „rohe“, d.h. nicht appretierte Tuche, als auch gereinigte Wolle bearbeitet usw. Auch diesen Zwischenstufen entsprach und entspricht jeweils ein Gewerbe. Aber das zentral und eigentliche Gewerbe der Tuchproduktion ist die Weberei, und im Hinblick auf sie gelten alle anderen Verarbeitungsphasen als Hilfsgewerbe.

Die größeren Euskirchener Betriebe um die Jahrhundertmitte waren aber hilfsgewerbliche Anlagen, die die Spinnerei hauptsächlich betrieben und das eine oder andere Hilfsgewerbe und vielleicht etwa Weberei dazu. Die Weberei selbst ist noch nicht technisch und wirtschaftlich zentralisiert, noch 1859 hatten die größten Tuchfabriken nur 15 Webstühle (nach Stadtarchiv A. 432). In den größeren hilfsgewerblichen Fabriken wird der Inhaber einigen intelligenten Arbeitern gewisse, über den reinen Arbeitsvorgang nicht hinausgehende Anordungsvollmachten übertragen haben, ohne selbst aber die Leitung aller Zweige der Fabrik aus der Hand zu geben. Die ersten Fabrikmeister sind demnach ein Mittelding zwischen Vorarbeiter und Altgeselle gewesen und unterschieden sich nicht auffallend von den übrigen Arbeitern. In den Bevölkerungslisten von 1846 und 1852 finden wir nur je einen „Fabrikmeister“, und der von 1852, Peter Josef Hilger mit Namen, steht 1856 bei der ersten Wahl zum Krankenkassenvorstand unter den „Fabrikarbeitern“ verzeichnet (Stadtarchiv A. 284), er scheint aber einiges Ansehen genossen zu haben, denn er wird im Gegensatz zu seinen Mitkandidaten fast einstimmig gewählt.

Die Bezeichnung „Tuchmacher“ ist spätestens seit 1864 nicht mehr nur den Arbeitgebern vorbehalten, sondern bezeichnet auch im Lohnverhältnis stehende Personen, wahrscheinlich ehemals selbständige Handwerksmeister und ihre ehemaligen Gesellen. Am Ende des Jahrhunderts nennen sich allgemein die Weber im Gegensatz zu den Taglöhnern Tuchmacher.


VI. Aufstieg und Niedergang der neugegründeten Innung

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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