Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



XII. Schluß


Der Streik stellt einen Wendepunkt in der Sozialgeschichte der Euskirchener Tuchindustrie dar, indem er, wie es ein Arbeiter ausdrückte, „die Fabrikanten aus ihrem Schlaf weckte“, das heißt wohl, sie auf die Unzulänglichkeit einer quasi-patriarchalischen Arbeitsordnung aufmerksam machte und nach neuen Formen suchen ließ. Der Wille des Arbeiters begann Einfluß zu nehmen auf die personelle, wirtschaftliche und auch auf die technische Betriebsverfassung. Das ist ein Vorgang, der bis heute andauert und eine eigenen Problematik zu entwickeln beginnt. Die Arbeitsordnung wurde versachlicht, in den größeren Betrieben wenigstens geschah das schon vor dem ersten Weltkrieg: es wurden Stempeluhren am Fabrikeingang angebracht, Arbeitsbücher ausgehändigt, usw. Allmählich entstand das komplizierte System der heutigen Arbeits- und Sozialordnung einer Tuchfabrik, teils aus der örtlichen Initiative von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, teils aus staatlichen Gesetzen, teils aus den Vereinbarungen überörtlicher Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, teils aus der fortschreitenden Technisierung. Dieses System darzustellen, muß Fachleuten überlassen bleiben; wir haben nur noch einige große Linien bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.

Nach dem ersten Weltkrieg scheinen die Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den Fabrikanten teilweise sehr heftig gewesen zu sein. Das weiter erstarkte Selbstbewußtsein der Arbeiter und die starre Haltung einiger Fabrikherren der alten Generation standen sich schroff gegenüber.

Heute liegen die Dinge im Gleichgewicht und sind versachlicht. Man kann die Sozialpolitik, die in die Ordnung der einzelnen Betriebe jeweils hineinwirkt, zum größeren Teil dem Staat und den zuständigen Organisationen und Einrichtungen überlassen, in denen sowohl Arbeitgeber wie Arbeitnehmer aus der Euskirchener Tuchindustrie an führender Stelle mitarbeiten. Das soll nicht heißen, daß die Betriebsangehörigen nicht selbständig ihre Interessen wahren könnten, sie tun es oft mit großem Nachdruck. Dasselbe soll auch nicht heißen, daß soziale Einzelinitiative auf Seiten der Unternehmer nicht vorhanden sei, sie hat sich in Notzeiten gezeigt und hat in manchen Betrieben zusätzliche Pensionskassen oder sonstige Formen einer zusätzlichen Unterstützung alter Arbeiter hervorgebracht. Wohnungsbau wird auch gefördert. Man zieht aber noch heute in Euskirchen die persönliche Hilfeleistung des Fabrikanten für seinen Arbeiter einer organisierten Form vor.

In der Personalverfassung der Betriebe zeigt sich bei allen durch die Technik bedingten Erweiterungen noch deutlich der alte Aufbau. Die Inhaber der Betriebe haben meist ihr Arbeitsgebiet unter sich geteilt in das kaufmännische und das der Betriebsleitung. Noch immer befindet sich also der Inhaber als oberste Instanz innerhalb des Betriebes. Ihm zur Seite stehen leitende Angestellte, die Fachschulbildung besitzen und sich zunächst im Betrieb qualifizieren müssen. Dieser Betriebsleitung unterstehen die Meister immer noch unmittelbar, ohne die Zwischeninstanz eines Abteilungsleiters. Die Zahl der Meister hat sich trotz der wachsenden technischen Differenzierung nicht erheblich vergrößert, manche in anderen Tuchindustrien Meistern vorbehaltene Stellen werden in Euskirchen von Vorarbeitern eingenommen. Von den Meistern wird jetzt auch meist Fachschulbildung verlangt, jedoch ist der innerbetriebliche Aufstieg vom Arbeiter zum Meister in manchen Abteilungen noch möglich.

Alle Betriebe haben einen Arbeiterstamm, dessen Bestehen und Weiterführung über die Generationen gepflegt wird, ohne daß er sich deshalb gegen neu hinzukommende Arbeiter abschlösse. So ist eine Entfremdung der Arbeiter unter sich und zum Arbeitgeber hin nicht eingetreten. Die Formen der Autoritätswahrung haben sich allerdings gewandelt. Der Betriebsrat besteht gewöhnlich aus Stammarbeitern und bleibt im Kern über viele Neuwahlen hinweg der gleiche. Er hängt nicht im Schlepptau der Betriebsleitung, arbeitet aber meistens mit ihr zusammen und wirkt seinerseits als erziehende Autorität besonders auf die jüngeren Arbeiter ein. Soziale Mißstände gibt es in der Euskirchener Tuchindustrie nicht mehr, und ihre Sozialpartner kommen gut miteinander aus.

Trotzdem hat wohl jeder Betrieb seine eigenen unvermeidlichen wie vermeidbaren Spannungen und hat damit und darüber hinaus Teil an der allgemeinen Problematik der industriellen Arbeitswelt. Die Fremdbestimmung des Arbeiters und ebenso ihr Gegengewicht, das er sich in Organisationen geschaffen hat, neigen immer zu extremen Formen und müssen beständig ausbalanciert werden, im großen Gefüge des Staates auf lange Sicht, im Betrieb jeden Tag aufs neue. Das Problem der Technik füllt draußen, auf der Straße und im Haus mehr auf als das der Fremdbestimmung. Aber beide haben ihren gemeinsamen Schwerpunkt in der industriellen Arbeitswelt und wirken weitgehend aus dieser heraus. Es wird sich noch entscheiden müssen, ob in ihr Fremdbestimmung und Technik so bewältigt werden, daß wir alle der Barbarei des Kollektivismus entgehen. Bei jedem Bewältigungsversuch sollte man die Ganzheit des einzelnen Menschen nicht in irgendeinem materialistischen Denkschema verstümmeln, sondern ihr einen großen Teil der Bewältigung zutrauen. Daß dies möglich und geschehen ist, dafür zeugen viele invalide Arbeiter hierzulande, die durch ein langes, fremdbestimmtes Leben hindurch ihr Menschentum bewahrt und ausgebildet und auch der Arbeit an der Maschine einen guten Sinn abgewonnen haben, der sich nun, im Alter und dem Tode zu, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen öffnet.


Quellen

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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