Der Streik stellt einen Wendepunkt in der
Sozialgeschichte der Euskirchener Tuchindustrie dar, indem er,
wie es ein Arbeiter ausdrückte, die Fabrikanten aus
ihrem Schlaf weckte, das heißt wohl, sie auf die
Unzulänglichkeit einer quasi-patriarchalischen
Arbeitsordnung aufmerksam machte und nach neuen Formen suchen
ließ. Der Wille des Arbeiters begann Einfluß zu
nehmen auf die personelle, wirtschaftliche und auch auf die
technische Betriebsverfassung. Das ist ein Vorgang, der bis heute
andauert und eine eigenen Problematik zu entwickeln beginnt. Die
Arbeitsordnung wurde versachlicht, in den größeren
Betrieben wenigstens geschah das schon vor dem ersten Weltkrieg:
es wurden Stempeluhren am Fabrikeingang angebracht, Arbeitsbücher
ausgehändigt, usw. Allmählich entstand das komplizierte
System der heutigen Arbeits- und Sozialordnung einer Tuchfabrik,
teils aus der örtlichen Initiative von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, teils aus staatlichen Gesetzen, teils aus den
Vereinbarungen überörtlicher Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerverbände, teils aus der fortschreitenden
Technisierung. Dieses System darzustellen, muß Fachleuten
überlassen bleiben; wir haben nur noch einige große
Linien bis in die Gegenwart hinein zu verfolgen.
Nach dem ersten Weltkrieg scheinen die
Auseinandersetzungen der Gewerkschaften mit den Fabrikanten
teilweise sehr heftig gewesen zu sein. Das weiter erstarkte
Selbstbewußtsein der Arbeiter und die starre Haltung
einiger Fabrikherren der alten Generation standen sich schroff
gegenüber.
Heute liegen die Dinge im Gleichgewicht
und sind versachlicht. Man kann die Sozialpolitik, die in die
Ordnung der einzelnen Betriebe jeweils hineinwirkt, zum größeren
Teil dem Staat und den zuständigen Organisationen und
Einrichtungen überlassen, in denen sowohl Arbeitgeber wie
Arbeitnehmer aus der Euskirchener Tuchindustrie an führender
Stelle mitarbeiten. Das soll nicht heißen, daß die
Betriebsangehörigen nicht selbständig ihre Interessen
wahren könnten, sie tun es oft mit großem Nachdruck.
Dasselbe soll auch nicht heißen, daß soziale
Einzelinitiative auf Seiten der Unternehmer nicht vorhanden sei,
sie hat sich in Notzeiten gezeigt und hat in manchen Betrieben
zusätzliche Pensionskassen oder sonstige Formen einer
zusätzlichen Unterstützung alter Arbeiter
hervorgebracht. Wohnungsbau wird auch gefördert. Man zieht
aber noch heute in Euskirchen die persönliche Hilfeleistung
des Fabrikanten für seinen Arbeiter einer organisierten Form
vor.
In der Personalverfassung der Betriebe zeigt sich
bei allen durch die Technik bedingten Erweiterungen noch deutlich
der alte Aufbau. Die Inhaber der Betriebe haben meist ihr
Arbeitsgebiet unter sich geteilt in das kaufmännische und
das der Betriebsleitung. Noch immer befindet sich also der
Inhaber als oberste Instanz innerhalb des Betriebes. Ihm zur
Seite stehen leitende Angestellte, die Fachschulbildung besitzen
und sich zunächst im Betrieb qualifizieren müssen.
Dieser Betriebsleitung unterstehen die Meister immer noch
unmittelbar, ohne die Zwischeninstanz eines Abteilungsleiters.
Die Zahl der Meister hat sich trotz der wachsenden technischen
Differenzierung nicht erheblich vergrößert, manche in
anderen Tuchindustrien Meistern vorbehaltene Stellen werden in
Euskirchen von Vorarbeitern eingenommen. Von den Meistern wird
jetzt auch meist Fachschulbildung verlangt, jedoch ist der
innerbetriebliche Aufstieg vom Arbeiter zum Meister in manchen
Abteilungen noch möglich.
Alle Betriebe haben einen
Arbeiterstamm, dessen Bestehen und Weiterführung über
die Generationen gepflegt wird, ohne daß er sich deshalb
gegen neu hinzukommende Arbeiter abschlösse. So ist eine
Entfremdung der Arbeiter unter sich und zum Arbeitgeber hin nicht
eingetreten. Die Formen der Autoritätswahrung haben sich
allerdings gewandelt. Der Betriebsrat besteht gewöhnlich aus
Stammarbeitern und bleibt im Kern über viele Neuwahlen
hinweg der gleiche. Er hängt nicht im Schlepptau der
Betriebsleitung, arbeitet aber meistens mit ihr zusammen und
wirkt seinerseits als erziehende Autorität besonders auf die
jüngeren Arbeiter ein. Soziale Mißstände gibt es
in der Euskirchener Tuchindustrie nicht mehr, und ihre
Sozialpartner kommen gut miteinander aus.
Trotzdem hat
wohl jeder Betrieb seine eigenen unvermeidlichen wie vermeidbaren
Spannungen und hat damit und darüber hinaus Teil an der
allgemeinen Problematik der industriellen Arbeitswelt. Die
Fremdbestimmung des Arbeiters und ebenso ihr Gegengewicht, das er
sich in Organisationen geschaffen hat, neigen immer zu extremen
Formen und müssen beständig ausbalanciert werden, im
großen Gefüge des Staates auf lange Sicht, im Betrieb
jeden Tag aufs neue. Das Problem der Technik füllt draußen,
auf der Straße und im Haus mehr auf als das der
Fremdbestimmung. Aber beide haben ihren gemeinsamen Schwerpunkt
in der industriellen Arbeitswelt und wirken weitgehend aus dieser
heraus. Es wird sich noch entscheiden müssen, ob in ihr
Fremdbestimmung und Technik so bewältigt werden, daß
wir alle der Barbarei des Kollektivismus entgehen. Bei jedem
Bewältigungsversuch sollte man die Ganzheit des einzelnen
Menschen nicht in irgendeinem materialistischen Denkschema
verstümmeln, sondern ihr einen großen Teil der
Bewältigung zutrauen. Daß dies möglich und
geschehen ist, dafür zeugen viele invalide Arbeiter
hierzulande, die durch ein langes, fremdbestimmtes Leben hindurch
ihr Menschentum bewahrt und ausgebildet und auch der Arbeit an
der Maschine einen guten Sinn abgewonnen haben, der sich nun, im
Alter und dem Tode zu, zur eigentlichen Bestimmung des Menschen
öffnet.
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