Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



XI. Die soziale Unruhe innerhalb der Arbeiterschaft


Über die ersten Gemütserregungen aus den Anfängen der Industrialisierung hat uns Bürgermeister Boener schon berichtet. Sie haben nicht weniger als weltanschauliche Ursachen. In einem Bericht von 1839 heißt es, die Euskirchener Einwohner kümmerten sich wenig oder gar nicht um kirchliche oder politische Angelegenheiten (Stadtarchiv A. 353). Für diese Dinge der großen Welt lebten sie damals noch hinter dem Mond. Auch die Revolution vn 1848 machte sich zwar in handel und Gewerbe unangenehm bemerkbar (vgl. Renelt S. 17), hat aber politisch die Stadt nicht sonderlich berührt. Von ihrem möglichen Zusammenhang mit vielen Umständen, die Anfang der 50er Jahre die Euskirchener Tuchindustrie voranbrachten, sprach ich schon, aber das lag noch völlig außerhalb einer Einflußnahme der Arbeiterschaft. 1854, als ziemlich früh, wurde in der Stadt ein katholischer Gesellenverein persönlich von Adolf Kolping gegründet (vgl. Festschrift des Kolpingvereins, Eusk. 1929) - es sind gerade die Jahre des Kampfes zwischen Handwerk und Industrie, der Klassengründung usw. - aber auch dies ist eine Bestrebung, die, so sehr sie und mit Recht begrüßt wurde, von außen kam. Eine eigentliche politische Aktivität zeigt sich in Euskirchen erst in den 70er Jahren.


Der Kulturkampf und die Rolle der Kirche

Das hat viele Ursachen, die Eisenbahn, Entstehen von anderen Industrien, die Bewegung der Kriege und schließlich der Reichsgründung, aber ein Hauptgrund ist unverkennbar: der Kulturkampf. Für das Jahr 1873 liegen Berichte von zahlreichen Katholikenversammlungen vor, die „namentlich von den unteren Stünden sehr stark besucht“ (Stadtarchiv A. 3544) werden. Der Kulturkampf hat die soziale Unruhe der Euskirchener Arbeiterschaft ausgelöst. Der Kulturkampf ging aber die Kirche an, mit der die Arbeiter sich also eng verbunden fühlen mußten, und tatsächlich haben die Kirche oder die ihr entstammenden Organisationen des politischen oder vorpolitischen Raumes für mindestens zwei Jahrzehnte lang die soziale Unruhe der Arbeiter in Euskirchen getragen und gelenkt. Auswärtige geistliche Redner behandelten vor dem Gesellenverein und von der Kanzel die soziale Frage (Stadtarchiv A. 3544 und A. 414). Das Zentrum wandte sich vor den „Wählern II. Klasse“ gegen die unsozialen „liberalen Einrichtungen“ (Stadtarchiv A. 3544 und A. 414), und schließlich fehlt auch nicht die mündliche Nachricht vn einem jungen Kaplan, der, als er über die soziale Frage gepredigt habe, auf Betreiben des Fabrikanten aus Euskirchen entfernt worden sei. Das weist schon darauf hin, warum die Kirche später in der Arbeiterschaft soviel Boden verlor.

In einer so geschlossenen Umwelt, wie die kleine Stadt sie darstellte, hatte sich die Kirche wie alle Erscheinungen des einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebens auch dem patriarchalischen Verhältnis der Stände zueinander eng angeschmiegt. Als dann in diesem Verhältnis ein Bruch eintrat, ging dieser Bruch auch mitten durch die Kirche. Unter ihr wird hier sowohl die Konstitution von Klerus und Laien als auch die einheitlich christliche Gesinnung der Menschen verstanden. Als diese Einheit der Gesinnung durch die Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sich spaltete, erlitt die Kirche das mit. Zwar regten sich sofort, wie wir sahen, innerhalb ihrer selbst Kräfte, die sich von der alten ständischen Ordnung lösten und einer neuen zustrebten, aber durch die Kirche als Ganzes lief der Riß, und erst durch diesen Riß fanden die großen Ideologien des 19. Jahrhunderts, der Liberalismus und der Sozialismus, Einlaß in die Euskirchener Gemüter, und zwar, wie mir scheint, bei der Arbeiterschaft zuletzt.

Kennzeichnend ist ein bürgermeisterlicher Bericht von 1871: „Der guten religiösen Gesinnung der hiesigen Bevölkerung mag es denn auch mit Recht zuzuschreiben sein (vorher ist von kirchlichen Wirren die Rede, die durch eine „taktvolle Geistlichkeit“ und „besonnene Bevölkerung“ in Euskirchen gemildert seien. Anmerk. d. Verf.) daß Vergehen und Verbrechen trotz der großen Anzahl von Fabrik-Arbeiter-Familien immer seltener werden ... Arbeitseinstellungen sind ebenfalls nicht vorgekommen und würde es einem aufkommenden Agitator in dieser Richtung auch nicht gelingen, eine solche hervorzurufen, weil die bemittelte Klasse es an Unterstützungen nicht fehlen läßt, da wo eine Arbeiterfamilie Hülfe noth thut.'“ (Stadtarchiv A. 414).

Dieser Bürgermeister besaß offenbar nicht den sozialen Weitblick seines Vorgängers Ruhr. Dafür gibt er uns die landläufige Ansicht des Bürgertums über die soziale Frage und ihre Lösung wider. Man hält, zugespitzt formuliert, die Arbeiter nun für einen etwas exponierten Teil der Gesellschaft, dem nicht recht zu trauen ist, obwohl es ja auch noch Christenmenschen sind, den man aber mit allgemeiner Mildtätigkeit ruhig halten kann. Das reale Verhältnis der Fabrikanten zu ihren Arbeitern, das sowieso aus sachlichen Gründen immer anders ist, als es sich der Außenstehende vorstellt, zeigte natürlich wenig Ähnlichkeit mit landläufigen Meinungen über die Arbeiterklasse. Es war damals noch persönlich patriarchalisch bestimmt, die Einheit der Gesinnung war noch kaum beschädigt. Sie wurde außer von Religion und Kirche auch von dem damals (1871) machtvoll wachsenden Nationalgefühl getragen, das sich nachher ins Bombastische übersteigerte, aber dem Kern nach sich im Weltkrieg und darüber hinaus auch als soziale Bindungskraft zeigte. Überflüssig zu sagen, daß überhaupt alle hier besprochenen Ansätze bis in die Gegenwart reichen.


Die Sozialdemokratie

Doch wir wollen nun die Linie der anderen großen Ideologie, des Sozialismus, in Euskirchen aufnehmen und soweit als nötig verfolgen. Im Jahre 1878 berichtet der Bürgermeister an die vorgesetzte Behörde, die Versuche sozialdemokratischer Agitatoren, in Euskirchen Fuß zu fassen, seien „am gesunden Sinn der Euskirchener Arbeiter“ gescheitert (Stadtarchiv A. 414). Zum erstenmal wird die Sozialdemokratie, die schon seit neun Jahren in Deutschland als Partei organisiert war und gerade in diesem Jahr, 1878, durch das Sozialistengesetz an den boden gedrückt wurde, in Euskirchen erwähnt. Dann tritt sie in den Bürgermeisterberichten nicht mehr auf bis zum Jahre 1893, also erst wieder nach fünfzehn Jahren (Stadtarchiv A. 414). Aber schon seit 1885 finden wir in den Berichten immer wieder einmal eine Bemerkung, die das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern als „gut“, „zufriedenstellend“ und ähnlich bezeichnet, aber eben doch durch ihr Vorhandensein bezeugt, daß dieses Verhältnis, aus welchen Gründen auch immer, von Staats wegen beobachtet werden mußte. 1893 heißt es dann, das Verhältnis sei „immer noch“ zufriedenstellend, „wenn auch die Anhänger der Sozial-Demokratie im Zunehmen sind. Sie bilden hier noch keine besondere Vereinigung, gehören vielmehr als Einzelmitglieder dem sozialdemokratischen deutschen Textil-Arbeiter-Verbande an.“ (Stadtarchiv A. 414). In Stotzheim hielten sie Versammlungen ab.

Im Februar 1894 bildete sich dann in der Stadt ein „Arbeiter-Bildungs-Verein“, „der aber nur sozial-demokratische Tendenzen verfolgt ... Bis jetzt hat auch nur eine kleine Versammlung stattgefunden, die ausschließlich durch Vorlesung aus einem Buche über die ... (leider unleserlich. Anm. d. Verf.) Menschentheorie ausgefüllt worden ist. Die Zahl der Mitglieder, fast ausschließlich junger einflußloser Burschen, betrug anfangs 13, ist aber schon durch den Einfluß der Arbeitgeber auf 10 gesunken.“ (Stadtarchiv A. 414).

Dieser Verein hielt dann im Laufe des Sommers mehrere Versammlungen unter freiem Himmel ab - einen Saal konnte er in der Stadt nicht bekommen - bei denen ein Kölner Redner sprach, „dem aber hiesige einfache Arbeiter entgegengetreten sind“, wie es in dem Bericht heißt (Stadtarchiv A. 414). Bei der zweiten Versammlung beraumte gleichzeitig in einem Saal der Verein für das katholische Deutschland eine Gegenversammlung an, auf der ein Reichstagsabgeordneter sprach und die einen „großartigen Verlauf nahm, was ausgerechnet der sehr liberale Bürgermeister (nicht der von 1871) mit großer Befriedigung berichtet, der in der Kulturkampfzeit an „hiesiger utltramontaner Bevölkerung“ (Stadtarchiv A. 414) kein gutes Haar gelassen hatte. In seinem Bericht fährt er dann fort: „Um die Sozialdemokratie weiter zu bekämpfen, wird in nächster Zeit noch ein besonderer katholischer Arbeiter-Verein gegründet werden.“ (Stadtarchiv A. 414).


Am Disternicher Wall in Euskirchen
Foto: Schmitz-Franke


Die Sozialdemokraten halten Vorlesungen über eine Menschentheorie, die katholischen Arbeiter schließen sich zusammen, um diese Sozialdemokraten zu bekämpfen. Man sieht, aus wie wenig sachlichem Anlaß die Euskirchener Arbeiter zur Organisierung drängten, einer Organisierung zudem, die von außen herangetragen wurde. Abe sie drängten dazu. So darf man diese Vorgänge nicht als beiläufig im Zuge der Zeit auftretend, ansehen; ein tiefes Bedürfnis lag ihnen zugrunde. Die Arbeiter wollten nun auch in Euskirchen aus der Bevormundung durch Arbeitsherren und Stadt und Staat herauskommen, das bedeutet aber im Grunde die Zerschlagung des patriarchalischen Weltbildes, mochte es auch noch so gut seine Dienste tun. So sind diese ersten sozialen Auseinandersetzungen auch und erstlinig als geistige und auf dem gezeichneten weltanschaulichen Hintergrund zu verstehen. Die Sozialisten, so unbeholfen sie anfingen, brachten das Pathos ihrer Ideologie mit, das sich schon 1848 im kommunistischen Manifest bekundet hatte, und die Katholiken hatten seit 1891 die große Enzyklika Rerum novarum Leos XIII. im Rücken.


Eine frühe Fabrikordnung

Auch in der Unternehmerschaft hatte sich vereinzelt schon vorher die Einsicht gefunden, daß patriarchalische Formen einer modernen Fabrik nicht angemessen seien.

So steht im „Euskirchener Volksblatt“ vom 19. März 1890 folgende Notiz (wieder abgedruckt im Eusk. Volksblatt Nr. 64, 15. März 1940): „nach dem Vorgange in größeren Fabrikstädten beginnt man auch hier orts Wohlfahrtseinrichtungen für die Fabrikarbeiter zu treffen. In der Tuchfabrik der Firma C. Lückerath ist am letzten Sonntag (16. März ein Arbeiter-Vorstand auf Grund eines Statuts gewählt worden, welcher für die Erhaltung und Förderung des Geistes der Zusammengehörigkeit, der Ordnung und guten Sitte unter den Arbeitern der Fabrik nach Möglichkeit zu sorgen, Streitigkeiten zu schlichten, Beschwerden entgegenzunehmen und dem einzelnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen hat. Die Firma wird auch eine Fabrikordnung unter Zustimmung des Arbeitervorstandes ausarbeiten und demnächst in Kraft treten lassen.“ Diese Reform führte der Sohn des Fabrikanten und ersten Rendanten der Tuchmacherkrankenkasse Casp. Lückerath durch, den wir schon als einen sozialen Schrittmacher kennengelernt haben. Die erwähnte Fabrikordnung ist leider nicht mehr aufzutreiben, sie hat aber bestanden, bis zum Erlaß des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“ im Jahre 1934.


Die Gewerkschaftsgründung und der Streik von 1906

Aber die Mehrzahl der Fabrikanten dachte nicht so früh um. Sie brauchten deshalb nicht unsozial zu sein, sie beharrten beim Althergebrachten. Dann werden sie sich aber angesichts der Unruhe in der Arbeiterschaft auf den bekannten „Herr im Hause“-Standpunkt versteift haben, dem gegenüber die Arbeiter nun konkreten Anlaß hatten, sich zu organisieren. Eigentliche Gewerkschaften bildeten sich aber in der Euskirchener Texitlarbeiterschaft erst nach der Jahrhundertwende (vgl. Renelt S. 93).

Einen Werkmeisterverein gab es schon viel früher, schon mindestens seit 1885 (Stadtarchiv 3544), aber er spielte keine große Rolle. Der sozialdemokratisch orientierte Deutsche Textilarbeiterverband war 1891 gegründet worden, die christlichen Gewerkschaften erst 1899. In Euskirchen traten beide Organisationen bezeichnenderweise gleichzeitig auf. Sie wurden (nach mündlichen Auskünften) von Aachener Gewerkschaftlern gegründet und wuchsen beide zahlenmäßig rasch an. Ihre weltanschaulich gegensätzliche Ausrichtung fiel bei der praktischen Tätigkeit nun nicht mehr sehr ins Gewicht. Daß ein Arbeiter einer Gewerkschaft angehörte, wurde ihm anscheinend nur von sehr starren Fabrikherren übelgenommen. Allgemein blieb das Verhältnis von Mensch zu Mensch, wie es war, man kannte sich ja gegenseitig. Aber es standen sich nun doch die Organisationen und der Unternehmer gegenüber als Machtgruppen und maßen sich. Die Machtprobe und der Konflikt ließen nicht lange auf sich warten.

Im Sommer 1906 traten die Textilarbeiter „nach vorheriger rechtsmäßiger Lösung des Arbeitsverhältnisses in den Ausstand“, wie es im Verwaltungsbericht der Stadt von 1906 heißt. Der Streik hielt dreieinhalb Monate an. Als Gründe werden im Verwaltungsbericht angegeben: „Lohndifferenzen, Nichtanerkennung des gewählten Arbeitsausschusses durch die Fabrikanten und die Ablehnung der Wünsche der Arbeiterschaft bezüglich Abänderung der neu erlassenen Arbeitsordnung.“ Von 738 Arbeitern, darunter 600 organisierten, streiken 471 in vierzehn Betrieben, 3 Betriebe streikten nicht. Die streikenden Arbeiter erhielten von den beiden Textilarbeiterverbänden die beachtliche finanzielle Unterstützung von 78.000 Mark. Schließlich gaben die Fabrikanten den Lohnforderungen, die sehr detailliert gestellt waren, nach und er Streik wurde beigelegt. Maßregelungen fanden nicht statt. Alle ausständigen Arbeiter wurden sobald als möglich wieder eingestellt (nach dem Verwaltungsbericht a.a.o). Den Arbeitern wird amtlicherseits bescheinigt: „Ein polizeiliches Einschreiten ist nicht notwendig geworden. Ausschreitungen während des Streikes sind nicht vorgekommen und muß anerkannt werden, daß die Streikenden musterhafte Ordnung gehalten haben.“ (nach dem Verwaltungsbericht a.a.o). Aus all dem wie auch aus mündlichen Auskünften ersieht man, daß unter aller Erregung der Boden fest geblieben war, auf dem beide Gruppen wieder zusammen arbeiten und leben konnten. Dieser Streik war der erste und einzige in der Euskirchener Tuchindustrie, ganz im Gegensatz zu anderen Tuchindustriezentren, wo Streiks schon viel früher und öfter ausgebrochen waren (vgl. Renelt S. 93).


XII. Schluß

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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