Euskirchens Wirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert


Von Ludwig Beutin


Das Handwerk


So war also Euskirchen, ein wirkendes Rad in der großen Maschine der Zeit, zu einer Industriestadt geworden, in der die Textilindustrie zweifellos den Ton angab, jedoch eine ganze Reihe von andersartigen Werken kräftige Untertöne beifügten. Dennoch darf man die Industrie nicht isoliert betrachten, wenn man das soziale Bild einer Stadt gewinnen will. Es gab Zeiten, in denen das Handwerk mit Recht fürchtete, daß es unter der Konkurrenz der Industrie zum sicheren Tode verurteilt sei; das war vor allem in den ersten Zeiten des industriellen Aufschwungs so, als man die Wege und Möglichkeiten der kommenden Zeit noch nicht übersehen konnte.

Inzwischen ist längst klar geworden, daß das Handwerk zwar seine Funktionen in manchem geändert, viele Stellungen verloren, dafür aber andere neu gewonnen hat, daß sich zahlreiche neue Berufe und Erwerbszweige herausgebildet haben. Zudem aber ist immer ein großer Kreis des individuellen Bedarfs auszufüllen, dem die industriellen Erzeugnisse nicht nachkommen können. Man denke an das weiter Gebiet der Bau- und Wohnungswirtschaft, an Ernährung und Körperpflege, an die Welt der Geräte und Apparate, in der der Handwerker als sachkundiger Vermittler zwischen dem industriell gefertigten Produkt und dem einzelnen Verbraucher arbeitet. Sein räumliches Gebiet ist die eigene Stadt und die Nachbarschaft, sein Lebenselement die persönliche Bekanntschaft mit dem seine Dienste Beanspruchenden, wie man überhaupt seine Leistungen weithin unter die Gruppe der Dienste bringen kann.

In dem stillen Landstädchen mit einer durch Jahrzehnte gleichbleibenden Einwohnerzahl von anderthalbtausend Menschen, deren Bedürfnisse sich zumeist in einem durch Gewohnheit und knappe Mittel beengten Rahmen hielten, mußte auch das Handwerk sich auf diese üblichen, dem Leben des flachen Landes nahen Ansprüche beschränken. Nur das Tuchmachergewerbe machte eine Ausnahme und fand bereits den Weg zu weiterer Betätigung.

Im übrigen aber hatte sich das Handwerk im ganzen dem Wachstum des Bedürfnisses anzupassen. Die Zahl der Einwohner nahm zu und damit die Stadt selbst. Aber die Ansprüche wachsen ja nicht nur in diesem Maße, sondern im Fortgang der zivilisatorischen Entwicklung und der Zunahme des allgemeinen Wohlstandes steigern und konzentrieren sie sich schnell. Eine Stadt von 10.000 Einwohnern verlangt nicht nur das zehnfache an Gütern und Leistungen als die von 1.000, sondern weit mehr, besonders durch den öffentlichen Bedarf an Bauten, Straßen und technischen Einbau.

Wurden dem Handwerk durch diese Entwicklung neue Arbeitsforderungen und -Möglichkeiten geboten, so hatte es andererseits mit den gleichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie die frühe Industriewirtschaft: es war erst durch die französische, dann die sich anschließende preußische Gesetzgebung von den Schranken der Zunft befreit worden, die aber ja zugleich auch Sicherungen gewesen waren. Die Gewerbefreiheit, zunächst ganz radikal gedacht und gehandhabt, stellte einem jeden, der Lust verspürte und das Geschick sich zutraute, die Ausübung der Handwerke frei. Die Folge war, daß ganz ohne Zweifel viele Handwerke bei noch sehr einfachen und niedrigen durchschnittlichen Ansprüchen der Verbraucher, also einem schlechten Absatzmarkt, stark übersetzt waren.

Wenn man davon spricht, daß die Revolution von 1848 durch die Not der Arbeiterschaft mitverursacht worden sei, dann muß man beachten, daß die Arbeiterschaft in jener Zeit durchweg noch aus Handwerksgesellen bestand. Und so wie diese waren auch ihre Meister in einer oft höchst beengten Lage. So war ja auch die eigenartige Folge dieser Verhältnisse, daß in der Revolution in der jedermann nach Freiheit verlangte, die Handwerker die Rückkehr zu irgendeiner gebundenen Gewerbeverfassung forderten und die Abkehr von der Gewerbefreiheit. Gerade die Handwerkspolitik der preußischen Regierung spiegelt ihren allgemeinen politischen Kurs sehr deutlich wider: sie gab dem Handwerk, auf dessen üble Lage sie aufmerksam achtete, 1845 das Recht zurück, Innungen zu schließen.

Man machte davon in Euskirchen zunächst keinen Gebrauch. 1849, nach der verunglückten Revolution des Liberalismus, erließ Preußen eine Gewerbeordnung, in der nun wieder Vorschriften über die Ablegung von Gesellen- und Meisterprüfungen aufgestellt wurden, die mit der Ausbildung und der höheren Qualität des Handwerks zugleich auch praktisch den Zustrom zum Handwerk einschränkten. Dann aber stieg die Welle des wirtschaftlichen Liberalismus zu ihrem Gipfelpunkte; auf allen Gebieten und so auch auf dem des Handwerks ist das sichtbar. 1869 stellte die Gewerbeordnung - nun schon die des Norddeutschen Bundes - wieder die fast völlige Freiheit jeglicher gewerblichen Betätigung her; wiederum mit dem Erfolg, daß das Handwerk sich von den politischen und wirtschaftlichen Führungsstellen falsch eingeschätzt sah.


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Entnommen: „650 Jahre - Stadt Euskirchen, 1302 - 1952, Festschrift zum Stadtjubiläum, 1952, Euskirchen


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