Gedenkfeiern für die 1200 Opfer der Möhnesee-Katastrophe im Kriegsjahr 1943







Sintflut raste durch das Ruhrtal
Vor fünfzehn Jahren: Eigener Bericht der „Rundschau“




(R) Kaum 2 Stunden dauerte eine der größten Katastrophen des zweiten Weltkriegs: Dann waren 120 Millionen Kubikmeter Wasser aus dem größten See des Sauerlandes abgelaufen. Ihren verderbenbringenden Weg kennzeichneten Bilder des Schreckens. 1200 Tote - vom idyllisch unterhalb der 52 Meter hohen Staumauer gelegenen Klösterchen Himmelpforten bis zur Großstadt Essen forderte die Katastrophennacht. Noch heute, 15 Jahre danach, gleicht das Möhnetal an manchen Stellen einer ungebändigten Urlandschaft.

Die Sprengung des Staudamms der Möhnetalsperre in der Nacht zum 17. Mai 1943 durch englische Flugzeuge mit Hilfe von Spezialtorpedos tat der Wehrmachtsbericht lakonisch mit folgenden Sätzen ab: "Britische Fliegerkräfte drangen in der vergangenen Nacht in das Ruhrgebiet ein und warfen über einigen Orten eine geringe Zahl Sprengbomben. Dabei wurden zwei Talsperren beschädigt und durch den eintretenden Wassersturz schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung hervorgerufen“ .

Die Wahrheit war, daß nahezu 120 Millionen cbm Wasser, plötzlich entfesselt, aus der Möhnetalsperre in einer bis zu zwölf Meter hohen Flutwelle durch die Täler der Möhne und Ruhr stürzten, alles unter sich begrabend und mitreißend, was sich in den Weg stellte: Häuser, schwere Eisenbahnbrücken, 1200 Menschenleben auslöschend und unbeschreibliche Verwüstungen hinterlassend.


So sah es nach der Katastrophe vor der Sperrmauer am Möhnesee aus
(R)-Foto: Redecker

Warnende Stimmen

Es fehlte damals nicht an warnenden Stimmen, die auf die Gefahren bei einem Bruch der Staudämme aufmerksam machten. Aber die feindlichen Fliegerangriffe waren immer noch erfolglos geblieben, denn die Dämme waren gut geschützt. Vor allem der Damm der Möhnetalsperre; der in jenen Frühlingstagen 140 Millionen cbm Wasser staute. Künstliche Bäume tarnten die Sperrmauer, zwei Torpedonetze mit Stahlringen sicherten sie von der Wasserseite her, und auf beiden Türmen der Sperrmauer wehrte Flak feindlichen Anflügen. Man wiegte sich in solcher Sicherheit, daß man im Frühjahr 1943 bedenkenlos schwere Flak, Vernebelungsgeräte und Fesselballons von der Möhnetalsperre abzog.

Dieses Sicherheitsgefühl aber war trügerisch und wurde den Menschen zu einem fürchterlichen Verhängnis. Ziel der englischen Kriegsführung war bei den Angriffen auf die sauerländischen Talsperren, die Wasserreservoire des Ruhrgebietes zu vernichten und dadurch die Rüstungsindustrie empfindlich zu stören. Nach den wiederholten erfolglosen Angriffen hatten englische Wissenschaftler in aller Stille eine 3,5 t schwere Spezialbombe konstruiert, die über die Torpedonetze hinweg bis zu den Sperrmauern rollen und diese in die Luft jagen sollte. In rund 2000 Übungsflügen - so weiß man heute - hat die englische Luftwaffe diese „Walzenbombe“ über schottischen Seen ausprobiert.

In einer Mondnacht ...

Dann starteten in der mondhellen Nacht zum 17. Mai 1943 - in der Nacht nach dem Muttertag - 18 überschwere Lancaster-Maschinen der Royal Air Force zum Angriff auf Talsperren in Westdeutschland. Vier Maschinen fielen unterwegs wegen Motorschadens und durch Flakbeschuß aus, einige flogen weiter zur Edertalsperre, deren Damm aber bei dem Angriff nur unwesentlich beschädigt wurde. Der Hauptstoß richtete sich gegen den Möhnestaudamm. Hier leitete Oberstleutnant Guy Gibson den Angriff, der später wegen der erfolgreichen Durchführung mit dem Viktoriakreuz ausgezeichnet wurde. Im Herbst 1944 schoß ihn deutsche Flak bei einem Luftangriff auf M.-Gladbach ab.

Aus englischer Quelle wissen wir, daß Gibson selbst die erste Bombe auslöste. Sie krepierte im See und verursachte eine mehrere hundert Meter hohe Wassersäule, das Angriffsziel minutenlang in Wasserstaub einhüllend. Die zweite anfliegende Maschine erhielt einen Flaktreffer in den Benzintank; die zu spät ausgelöste Bombe vernichtete das Kraftwerk vor der Sperrmauer, während die Maschine brennend abstürzte. Auch die Angriffe der nächsten beiden Maschinen blieben erfolglos. Erst dann landete Hauptmann Maltby eine Spezialmine ins Ziel. Sie traf von der Talseite her die Sperrmauer unterhalb der Dammkrone. Die 40 m hohe und bis zu 34 m breite Mauer barst auseinander, und der Druck des angestauten Wassers vergrößerte das Sprengloch im Augenblick auf über 70 m Breite und 20 m Tiefe.

Wertvolle Zeit verloren

Es klingt beinahe unwahrscheinlich. Aber für einen solchen Katastrophenfall waren in den bedrohten Gebieten keine Vorkehrungen getroffen, nicht einmal ein Warnsignal festgelegt. So wenig glaubte man an eine solche Katastrophe. Als nach dem Bruch der Sperrmauer von dem zunächst gelegenen Ort Günne aus, der, höher am Hang hinauf gelegen, verschont, blieb, die Stadt Neheim-Hüsten telefonisch von der drohenden Gefahr unterrichtet wurde, glaubte man dort zunächst an einen üblen Scherz und verlor so wertvolle Minuten, ehe man Männer auf Fahrrädern durch die gefährdeten Gebiete schickte, die während des Fliegeralarms in den Luftschutzkellern sitzenden Bewohner zu warnen.

Auf Gut Himmelpforten, einem ehemaligen Kloster mit einer an barocken Kunstschätzen reichen Kirche, überraschte den Pfarrer die Flut im Luftschutzkeller. Während der Priester sich sonst bei Fliegeralarm immer im Pfarrgarten aufzuhalten pflegte, hatte er in dieser Nacht wegen seiner zu Besuch weilenden Schwester den Luftschutzkeller aufgesucht. Von der historischen Stätte ist nicht ein Stein auf dem anderen geblieben. Ein schlichtes HoIzkreuz zeugt heute davon, wo sie stand. Im Möhnetal, oberhalb Neheim, riß die Sturzflut ein BarackenIager, in dem rund 800 Fremdarbeiter, zumeist russische Frauen, untergebracht waten, im Wirbel mit sich fort, allein hier über 600 Todesopfer fordernd. In ihrer Todesangst eng umschlungen, so fand man viele der Frauen kilometerweit talabwärts als Leichen auf.

Häuser, auf deren Dächer sich die Bewohner in letzter Minute gerettet, stürzten unter dem Anprall der Flut ineinander. Von dem Dach eines zur Hälfte stehengebliebenen Hauses aus mußte ein Mann tatenlos zusehen, wie seine Frau und Kinder mit fortgerissen wurden. In dem Astwerk der von der Flut entwurzelten und mitgerissenen Bäume hingen die Menschen, oft zerquetscht zwischen gurgelnd fortgespülten Balken und Eisenteilen. Mobiliar, Fahrzeuge, Kadaver von Haustieren schossen auf den Wellen zu Tal. Von einer Bergnase bei Neheim löste sich ein 18 m großer Felsblock und rollte langsam talabwärts. Schwere Eisenbahnbrücken knickten wie Streichholzkonstruktionen, selbst noch nach einem Flutweg von 35 Kilometern. Bis in den Raum von Hagen wurden die Leichen angeschwemmt, und bis zur Ruhrmündung reichte das Hochwasser.

Bilanz des Grauens

Hier die Bilanz jener Nacht 1200 Tote forderte sie. Über 60 Wohnhäuser, zehn Straßen und vier Eisenbahnbrücken, zwölf Kraftwerke, sieben Stauanlagen, 25 Wasserwerke, zehn Fabriken, 30 km Eisenbahn und eine ebenso lange Straßenstrecke wurden vernichtet. Aber das strategische Ziel dieses Vernichtungswerkes erreichte man nicht: 4000 Bauarbeiter bauten die Sperrmauer innerhalb kurzer Zeit wieder auf. Schon im Frühjahr 1944 diente das gefüllte Staubecken wieder der Wasserversorgung des Ruhrgebietes.

Heute sind die Wunden jener Nacht vernarbt. Nur die Steine des Mittelstückes der Sperrmauer erinnern durch ihren helleren Farbton an den schwärzesten Tag des „Lidos". Die Sperre ist wieder eines der größten Wasserreservoire des Ruhrgebiets. Aber Hunderte werden am 17. Mai das Kreuz von Himmelpforten aufsuchen, Hunderte werden in den Ehrenhain der Stadt Neheim-Hüsten pilgern, die ihren 900 Toten dieser Katastrophe ein 18 m hohes Sandsteindenkmal errichtet hat.

Wo blieb das Möhnegold?

An diesem 17. Mai werden die Menschen am Möhnesee wieder von jenem lehmverschmutzten Leinenbeutel sprechen, der am Morgen nach der Schreckensnacht auf dem Fundbüro des Neheimer Rathauses abgegeben wurde. 38 Schmuckstücke aus hochkarätigem Gold funkelten dem Beamten entgegen, als er ihn öffnete und dabei außerdem den kyrillischen Buchstaben eines russischen Namenszuges auf dem Beutel entdeckte. Der von Juwelieren auf 400 000 Mark geschätzte Schmuck mit zehn Brillantringen aus der zaristischen Zeit wird einer deportierten Fremdarbeiterin zugeschrieben, die in den Fluten umgekommen ist. Der Finanzminister bestimmte, daß der Fund zugunsten der Stadt Neheim-Hüsten versteigert werden sollte. Es wurde nichts mit der Auffüllung des städtischen Finanzsäckels. Der Schmuck ging beim Zusammenbruch verloren.




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