Sonderausgabe Kölnische Rundschau vom 27. März 1956

Atomkraftwerke auf der Ville?

Genügend Voraussetzungen für eine an sich nicht standortgebundenen Industrie

Bergheim - Als eine der erregendsten Entdeckungen der menschlichen Geschichte darf fraglos die Freisetzung der Atomenergie bezeichnet werden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die neue Energie maßgeblichen Einfluß auf die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung aller Staaten der Erde nehmen wird. Die wirtschaftliche Nutzung der Atomenergie erfolgt über den elektrischen Strom; insofern tritt also im Endeffekt keine neue Energieform in Erscheinung. Sie verspricht jedoch, die Erzeugungsbedingungen der elektrischen Energie grundlegend zu verändern.

Wann diese Entwicklung in größerem Maßstabe einsetzt, ist heute noch stark umstritten. Neben optimistischen Stimmen, die bereits jetzt eine Konkurrenzfähigkeit des mit Atomenergie erzeugten Stromes gegenüber den traditionellen Energiequellen für gegeben halten, stehen pessimistische Äußerungen, die mit relativ hohen Stromkosten kalkulieren und außerdem auf eine Reihe ungelöster technischer und wirtschaftlicher Probleme hinweisen.


Lösbare Schwierigkeiten

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß die Nutzung der Atomenergie technisch noch in den Kinderschuhen steckt, und es besteht keine Veranlassung, anzunehmen, daß hier die weitere Entwicklung anders verlaufen wird als bei den großen technischen Entdeckungen des vergangenen Jahrhunderts. Die noch bestehenden Schwierigkeiten sind grundsätzlich lösbar, und die heute bekannten Verfahren werden in 20 Jahren mit größter Wahrscheinlichkeit durch bessere und billigere ersetzt sein. Darüber hinaus zwingt der außerordentlich stark steigende Strombedarf einfach zur Einschaltung neuer Energieträger.

Im Jahre 1975 dürft der Stromverbrauch in der derzeitigen Bundesrepublik größenordnungsmäßig rund 250 Milliarden kWh betragen gegenüber etwa 65 Milliarden kWh zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Für eine Stromerzeugung solchen Ausmaßes sind weder Wasserkräfte noch Stein- und Braunkohle in genügender Menge verfügbar. Zum genannten Zeitpunkt werden daher auch in Westdeutschland eine Reihe von Atomreaktoren für die Stromerzeugung in Betrieb sein.

Die weitere Umgebung von Köln ist sei langer Zeit ein Zentrum der Energieerzeugung und -verteilung. Die mit relativ niedrigen Kosten gewinnbare Braunkohle hat hier eine beträchtliche Stromerzeugungskapazität entstehen lassen, die wiederum die Ansiedlung großer, stromintensiver Industriebetriebe begünstigt hat. Es erhebt sich die interessante Frage, in welcher Weise dieser Raum von dem Auftreten der neuen Energiequelle beeinflußt werden wird und ob auch hier in naher oder ferner Zukunft Atomkraftwerke in größerer Zahl erstellt werden dürften.


Nahe Konsumzentren

Für die Standortwahl von Atomkraftwerken sind nach dem jetzigen Stand der Kenntnis zwei Faktoren von besonderer Bedeutung. Am revolutionierendsten verspricht die Tatsache zu werden, daß die in Atomreaktoren verbrauchten Brennstoffmengen sehr gering sind, der Brennstoffstransport also bei solchen Anlagen kostenmäßig gar keine Rolle spielt. Atomkraftwerke können daher völlig unabhängig vom Fundort des Ausgangsmaterials errichtet werden. Man wird sie überall dort bauen, wo große Konsumzentren bereits bestehen oder wo man solche zu entwickeln wünscht. Auf diese Weise werden die Stromtransportkosten möglichst geringgehalten und damit die kostengünstigste Versorgung der Verbraucher ermöglicht.

Auf der anderen Seite ist im derzeitigen Stadium der Entwicklung eine wirtschaftliche Erzeugung von elektrischer Energie mit Hilfe von Kernreaktoren vornehmlich in Größtanlagen möglich. Große Erzeugungskapazitäten können jedoch ihre Kostenvorteile nur in einem leistungsfähigeren Energienetz ausspielen, das ihnen erlaubt, nur den Tag und Nacht durchgehend benötigten Strom zu liefern, während die kurzzeitig auftretenden Spitzenbeanspruchung aus anderen Anlagen in das Netz eingespeist und an den Verbraucher geliefert werden. Man darf jedoch vermuten, daß in den kommenden Jahrzehnten auch die Konstruktion kleiner, kostengünstig arbeitender Reaktoren gelingen wird. Der letztgenannte Standortfaktor dürfte daher mehr von temporärer Bedeutung sind.

„In Knapsack werden die Wolken gemacht“, heißt es im Volksmund. Blick auf einen Teil der Werksanlagen der Knapsack-Griesheim AG. Das Werk gehört zu den größten Stromverbrauchern Europas
Foto: Mirgeler


Knotenpunkt Brauweiler

Wie liegen nun die entsprechenden Bedingungen im Kölner Raum? Man darf sagen, daß hier beide grundlegenden Standortvoraussetzungen für die Aufstellung von Kernreaktoren gegeben sind. Die Stadt Köln und die in ihrer Umgebung gelegenen Betriebe, insbesondere der chemischen Industrie, bilden ein starkes Konsumzentrum, und das Verbundnetz besitzt gerade in diesem Raum mit der Schaltstation Brauweiler seinen wichtigsten Knotenpunkt.

Zu diesen rein kostenmäßigen Überlegungen treten noch andere Gesichtspunkte. Auf weite Sicht gesehen, gehen die linksrheinischen Braunkohlenvorräte der Erschöpfung entgegen. Armand, der Präsident der französischen Staatseisenbahnen, hat in einem für die OEEC angefertigten Gutachten sogar den Vorschlag gemacht, die noch vorhandenen Braunkohlevorräte in etwa zehn Jahren restlos abzubauen, um dann zur Stromerzeugung mittels Atomenergie überzugehen. Dieser Plan hat allerdings keine Aussicht auf Verwirklichung, denn er würde beträchtliche Investitionen erfordern, deren Amortisation auf zehn Jahre zu verteilen wäre. Das würde praktisch eine Verteuerung der Förderung bedeuten.


Qualifizierte Arbeitskräfte

Wann die Läger tatsächlich erschöpft sein werden, läßt sich noch schlecht übersehen, da die fortschreitende Gerätetechnik voraussichtlich auch den Abbau der tiefgelegenen Erftscholle gestatten wird. Die Begrenztheit der Vorräte läßt sich jedoch nicht aufheben und damit auch nicht die in späteren Jahrzehnten zu erwartende Freisetzung eines Reservoirs von technisch hochqualifizierten Arbeitskräften im linksrheinischen Raum, für die günstige Wohnbedingungen geschaffen worden sind und die sich nicht zuletzt aus diesem Grunde als sehr seßhaft erwiesen haben.

Für dieses Arbeitspotential wird man neue Einsatzmöglichkeiten finden müssen, und es kann als sicher gelten, daß die Atomenergie dafür die energiemäßigen Voraussetzungen schaffen wird, ohne die eine moderne industrielle Produktion nicht möglich ist. Das äußere Bild der Landschaft wird sich, soweit es die Elektrizitätserzeugung anbetrifft, wenig ändern, denn Atomkraftwerke werden von den herkömmlichen Anlagen nach außen nur wenig verschieden sein.

Die Vorstellungswelt der breiten Öffentlichkeit verbindet die Atomenergie immer noch weitgehend mit ihrer zerstörenden Wirkung, verkörpert in der Atombombe. Darum mag die Aussicht, daß in nicht allzu ferner Zeit auch in unserem Raum Kernreaktoren errichtet werden, manchen mit Sorge erfüllen. Man darf schon heute feststellen, daß derartige Befürchtungen unbegründet sein dürften. Die Kernenergie ist ein technisches Rüstzeug. Bei denen, die sich seiner bedienen, liegt es, ob dieses Werkzeug der Zerstörung oder friedlichem Aufbau dient.

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