Kölnische Rundschau vom 31. Januar 1950

Insel in der Brandung uns'rer Zeit

Kaster, nur eine Handvoll Stadt, aber ein Juwel


Kaster. Wer von Bedburg im Kreis Bergheim auf der Landstraße oder mit der Bahn nach Grevenbroich fährt, der sieht plötzlich in einer typisch niederrheinischen Landschaft eine kleine, wehrhafte Stadt mit Toren, Türen und hochragenden Treppengiebeln. Es ist Kaster, die kleinste Stadt im Rheinland, immerhin eine Sehenswürdigkeit in dieser etwas eintönigen Erftniederung mit ihren Wiesen, Pappeln und Weiden, die der Frost eines eisigen Wintermorgens mit Rauhreif überzuckerte.



Das St. Agatha-'Tor

Man schreitet durch das St. Agatha-Tor. Die Stadtfarben der schwarz und rot gestrichenen Fensterläden sind verblaßt, ebenso wie die Farbe der schwer-eichenen Flügel am Erfttor. Die Hauptstraße, die mit ihrer Länge von etwa 200 Meter die beiden Tore verbindet, als Durchmesser der rundgebauten Stadt, ist menschenleer; soeben sind die Einwohner vom Friedhof zurückgekehrt und weilen in der Kirche bei einem feierlichen Seelenamt. Nur die vom Schlittern blankgewetzte Eisdecke der gefrorenen Gossen beweist, daß es hier auch Kinder gibt; zu sehen ist keins von ihnen - entweder hält die Kälte oder die Schule sie von der Straße fern. So klingt der Schritt des Fremden fast wie eine Entweihung dieser Stille. Ein großer Bauernhof links beweist, daß Kaster ein Ackerbaustädtchen ist, und auch die Mühle unten am Erfttor deutet darauf hin, aber die meisten Häuser sind groß, stattlich und durchaus städtisch anzusehen. Hier bietet sich für Maler mehr als ein dankbares Objekt, hier vermag einer zu schwelgen, der hinauszieht, um alte Winkel in ihrer farbenfrohen Formenschönheit festzuhalten. Es ist uns doch nach dem letzten großen Aderlaß des Bombenkrieges so wenig verblieben, da lohnt es sich schon, diese letzten Erinnerungen an eine historische Vergangenheit zu erhalten, in Wort und in Bild.


Alte Häuser an der Hauptstraße

Mit der Bezeichnung „Rothenburg“ ist viel Unfug getrieben worden. Es gibt in unserem Deutschland, das bis zum Dreißigjährigen Krieg so viele reizvolle Städte und Städtchen hatte, wovon jedes an sich und in seiner Eigenart ein Juwel genannt werden konnte - es gibt, wie gesagt, heute nur noch ein einziges Rothenburg, diese durch einen Zufall, einen Witz, eine Laune und einen mächtigen Schluck erhaltene Stadt, alles andere fraß der unersättliche Krieg. Und wenn sich ein gutes Dutzend Städte in ihrer Fremdenwerbung als „Rothenburg“ bezeichnen, mit der Beigabe „des Rheinlandes, der Pfalz, des Südens, des Nordens, des Ostens“ oder so ähnlich, so wirkt dies wie Schminke, die eine verblühte Schönheit möglichst dick auftragen muß, um sich überhaupt in Geltung zu setzen. Nun, Kaster hat eine solche Anleihe nicht nötig und will sich auch gar nicht als „Rothenburg an der Erft“ bezeichnen, sondern als das, was es ist, als die alte, entzückende, verträumte, vom Atomzeitalter sozusagen vergessene Stadt Kaster, die aber jedem Kenner soviel bietet, daß er nicht versucht ist, nach Vergleichen zu fahnden. Hier ist alles beisammen, der geschlossene mittelalterliche Stadtkern mit zwei erhaltenen Toren, mit fünf weiteren Resten von Toren, mit dem Torso einer mächtigen Umwallung, die wohl früher als achtunggebietend gelten konnte. Und innerhalb dieser Schale selbst sitzt der Kern, der einem ewig nagenden sprichwörtlichen Zahn der Zeit nicht so gut trotzte, sondern mit den wehrhaften Geschlechtern unterging, als lodernde Fackel über der Erftniederung. Gerade diese Wunden im Stadtkern machen ihn wertvoll, weil jedes dieser alten Häuser seine Geschichte hat. Da prunken die Treppengiebel der stolzen Fassaden früherer Herrenhöfe. Hierhin flüchteten sich Bewohner der großen Güter, wenn die Landsknechtstrommeln wieder einmal am Niederrhein wummerten.


Blick in die Eulengasse

Der Name Kaster sagt es schon, hier hatten die Römer ein Castrum, ein Legionslager, zuerst wohl nur eine Palisaden-Festung, wie sie jede marschierende Legion allabendlich anlegte, aber schließlich errichtete man ein bleibendes Lager, weil sich hier mehrere der wichtigen Straßen trafen und kreuzten. Die Erft lieferte Wasser und bildete einen Flankenschutz zugleich. Der nahe Urwald, der die Ville bedeckte, lockte zur Jagd. Niemand weiß, was mit dem Castrum an der Erft während der Frankenzeit geschah; die neuen Herren wohnten lieber draußen auf ihren großen Bauernhöfen, die sie aus früheren römischen Villen umbauten, oder in den Rodungen, die zur Landgewinnung in den Urwald geschlagen wurden. Holzweiler, Garzweiler und Etzweiler sind solche Bauernhöfe von damals, während Quadrath, Mödrath und Jackerath an die fränkischen Rodungen erinnern. Der Hügel des heutigen Königshoven mag wohl eine königliche Hofburg oder ein großes, dem König gehörendes Bauerngut getragen haben; die Reichen jener Zeit bauten ja ihre Häuser und Burgen mit Vorliebe auf Anhöhen, nicht nur aus strategischen Rücksichten, sondern auch, weil die Niederungen stark versumpft waren. Wahrscheinlich hat aus letzterem Grund das kleine römische Kastell an der Erft damals keine Rolle gespielt. Es wurde erstmalig wieder im 11. Jahrhundert genannt als Sitz des reichsunmittelbaren Grafen Heinrich von Caster. Hundert Jahre später sind die Grafen von Jülich die Herren von Kaster und bleiben es bis 1796, da die einmarschierenden Sansculotten die Vergangenheit als alten Plunder wegfegen. Fast 500 Jahre lang hatte Kaster als Witwensitz der Gräfinnen und Herzoginnen von Jülich gedient und war nicht schlecht dabei gefahren, das darf man schon annehmen, wenn auch die Kriegsläufe nicht unbemerkt an den Mauern vorbeigegangen sind, sondern heftig gegen Tor und Burg pochten und mancherlei Trümmer hinterließen. Schade,daß Unverstand noch in diesen Trümmern hauste und sie teilweise restlos dem Erdboden gleichmachte, denn vor 150 Jahren stand noch manches an Wertvollem, so zum Beispiel eine wuchtige Front des Hochschlosses. Planlos hat man diese halbzerstörten Bauten, die heute von bemerkenswerter historischer Bedeutung wären, als Steinbruch benutzt.

Un nun ist man bemüht zu erhalten, was uns verblieb. Hier und da und dort wird in einem Haus gezimmert, gehämmert, gestrichen, es klingt ganz profan durch die Stille des träumenden Städtchens, Kaster hat seine St. Sebastianus-Bruderschaft als lebendiges Glied vom Mittelalter bis in unsere Tage gerettet; hier verpflichtet eine Tradition, die heute 512 Jahre alte ist. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Da draußen vor den Toren rast das Maschinenzeitalter vorbei im Gebrüll seiner Motoren - nur schwach dringt ihre Unrast über die Mauern und Tore hinweg, herinnen ist eine andere Welt, eine Stille, die uns Großstadtmenschen fast peinvoll anfällt und uns bis in die Blutgefäße dringt. Daß man das Herz schlagen hört. Hier ist eine der letzten Inseln des Friedens.

P.C.Ettighoffer

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