Beilage der Kölnischen Rundschau vom 6. Januar 1950


Aus: An Erft und Gilbach, Nr. 1 vom 6.1.50
Heimatblätter für den Kreis Bergheim


Kaster, eine alte niederrheinische Stadt

Von Dr. Hans Welters

Städte am Niederrhein

Städte am Niederrhein? Du warst, lieber Leser, stets ein aufmerksamer Zuhörer, wenn Dein Lehrer in den Geographiestunden von der rheinischen Heimatlandschaft erzählte. Drum vermag Dich diese Frage nicht in Verlegenheit zu bringen. Selbstverständlich kennst Du die Städte des Niederrheins! München-Gladbach, Neuß, Krefeld, Mörs, Xanten, Kleve, Emmerich, diese Namen sprudelst Du nur so hervor. Dann kommt es schon zögernder: Vom alten Zons hast Du gehört; Du erinnerst Dich an Jülich und Linnich, die beiden kleinen Städte an der Roer, die in den letzten Phasen des hinter uns liegenden Krieges im Brennpunkt wochenlanger Kämpfe gestanden haben und dabei fast völlig zerstört worden sind; Grevenbroich und Bedburg an der Erft fallen Dir ein; ja und richtig, Du warst doch beim Rennen am Grenzlandring, dabei bist Du durch Erkelenz gekommen, hast mit Zuschauern gesprochen, die aus Kempen und Geldern stammten, „Nestern irgendwo da unten“. Hier aber, glaube ich, ist Dein Wissen um die niederrheinischen Städte auch schon zu Ende. Darf ich noch fragen, welche von ihnen Du gesehen hast? Ich kenne Deine Antwort: Was gibt es denn da schon zu sehen?, und im gleichen Atemzuge fährst Du fort: Wenn ich schon wandere, um etwas zu sehen oder zu erleben, dann doch nicht in diese langweilige Gegend am Niederrhein!


Kaster nach einem Stadtplan von 1821


Langweilig nennst Du sie, weil Du sie nicht kennst. Hast Du doch im wesentlichen nur die Orte genannt, in denen in unseren Tagen reges wirtschaftliches Leben pulsiert, Siedlungen, die das Antlitz der modernen Stadt tragen. Aber auch der Niederrhein hat seine Romantik, hat seine Burgen und Schlösser, hat kleine verträumte mittelalterliche Städtchen von eben der Art wie die, deren malerische Reize Du immer wieder bewunderst, wenn Dich Dein Wanderweg nach Süden ins Gebirge führt. Weiß Du, daß das platte Land nördlich der Eifel und westlich des Rheins am Ausgang des Mittelalters über 60 Städte und Städtchen zählte! Einige von ihnen haben durch die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung neue Impulse erfahren, sind sogar zu Großstädten geworden. In anderen dagegen ist das immer schwache städtische Leben früh stagniert, die Wirtschaftsform wurde hier wieder die bestimmende, die auch im Mittelalter allzeit die dominierende war, die Landwirtschaft. Nachdem der politische Interessenkampf des 14. und 15. Jahrhunderts, der sie aus Dörfern zu Städten gemacht hatte, abgeebbt war, sind sie meist schon nach kurzer Zeit ihrer ländlichen Bestimmung zurückgegeben worden. Dieses Städtchen, die ihr mittelalterliches Gewand zu größeren oder geringeren Teilen gewahrt haben, eingebettet sind in einen Kranz friedlicher Gärten, die ihre einstigen Wallgräben füllen, hier und da noch ein Stück der alten Stadtmauer mit eingefügtem Turm oder Tor zeigen, - sie heißt es aufsuchen. Man darf allerdings nicht den großen Verkehrsstraßen folgen, wenn man sie finden will, muß hin und wieder auch einen kleinen Fußmarsch in Kauf nehmen, um sie zu erreichen.

Besuch in Kaster

Folge mir, lieber Leser, in ein solch stilles Städtchen an der unteren Erft, nach Kaster. Ein alter Stadtplan des Ortes aus dem Jahre 1821 soll unser Führer sein. Unbedingt nötig haben wir ihn nicht. Die noch erhaltenen mittelalterlichen Bauwerke sprechen für sich. Aber mancherlei Spuren sind doch verwischt. Hier wird uns der Plan, der die Züge des Städtchens vor 130 Jahren festgehalten hat, gute Dienste tun.

Da ist gleich die erste, Dir vielleicht recht unliebsame Überraschung. Aus der Karte hast Du ersehen, daß eine Bahnlinie durch das untere Erfttal führt. Aber das moderne Verkehrsroß, das über diese Bahnlinie die Städte Düren und Neuß miteinander verbindet, eilt an Kaster vorüber, eine Haltestelle gibt es hier nicht. Laß es Dich nicht verdrießen. Wir steigen in Bedburg aus und laufen die drei Kilometer, die es von unserem Ziele trennen. Unterwegs erzähle ich Dir, wie anders es doch früher war. Damals, im ausgehenden Mittelalter, spielte das Städtchen, was den Verkehr angeht, keineswegs diese Aschenbrödelrolle. Wichtiger als die Straße, die dem Erfttal folgte, war diejenige, die es hier querte. Sie die von Jülich, der Hauptstadt des gleichnamigen herzogtums, nach Köln ,der damals bedeutendsten handelsstadt des Westens führte, stellt nur ein Teilstück jener Großverkehrsroute dar, die die Handelszentren des Südens mit denen Flanderns verband. Sieh, da stößt auch schon unser Wanderweg auf diese alte Verkehrsstraße. Unser Plan sagt uns, daß sie früher „Steinweg“ genannt wurde. Wir folgen jenem Steinweg und stehen nach wenigen Schritten vor einem zweistöckigen Torbau, dem Agathator oder der Niederpforte. Würde er an den Niederrhein passen, wenn er nicht aus seinem Baumaterial, dem Backstein, aufgeführt wäre! Ehe wir durch den spitzbogigen Torweg in das Stadtinnere treten, werfen wir noch schnell einen Blick in unseren Führer. Rechter Hand vor dem Tor zog sich 1821 eine mit mehreren Schießscharten zur Bestreichung der Gräben ausgestattete Mauer quer über die ganze Breite des früher die Stadt umziehenden Wallgrabens. Ihre Bezeichnung als Tormauer verrät, daß die heutige, an der Innenseite des Grabens stehende Niederpforte nur ein Teil der früheren Toranlage war. Zwei beiderseits der Straße verlaufende, etwa 50 Meter lange Parallelmauern - die eine ist bereits zu beginn des 19. Jahrhunderts nicht mehr vorhanden - verbanden sie mit einem auf der anderen Grabenseite gestandene Außentor. Das Ganze bildete also einstmals einen aus Innen- und Außentor mit Torhof bestehenden doppeltorigen Bau, so etwa wie ihn heute noch Zülpich darstellt.

Tore und Türme

Nur wenig mehr als 200 m lang ist die in SW-NO-Richtung den Ort durchziehende Straße, die im ersten Teil dem Namen Haupt-, jenseits der sie kreuzenden Kirch- und Vicarienstraße den Namen Mühlenstraße trägt. Dieser Weg, über den der Verkehr von Jülich nach Köln flutete, mißt unmittelbar hinter dem Agathator nur 7 m, verbreitert sich aber dann bis zur Stadtmitte straßenmarktartig auf etwa 35 m. Keine Geschäftshäuser säumen sie. Bauernhöfe schauen hernieder auf uns, die wir langsam dem Erfttor am anderen Ende des Städtchens zuschreiten. Hier wieder ein Torturm aus Backstein, diesmal aber mit rundem, romanischen Torbogen und ohne Andeutung eines Außentores. Unmittelbar an ihm vorbei fließt die Erft, daher sein Name.

Auch Teile der Stadtmauer kannst Du noch sehen. Sie sind allerdings vielfach von innen her überbaut und die Lücken dazwischen so groß, daß wir unseren Plan zu Rate ziehen müssen, um den Verlauf der Mauer zu rekonstruieren. Damals, 1821, ist sie fast in ihrem ganzen Umfang noch zu erkennen, lediglich in der SO-Ecke der Stadt sind die Spuren verwischt. Türme, insgesamt drei an der Zahl und alle in der Form des nach innen offenen Halbturmes, weist allein ihre der Erft abgekehrte Seite auf, deren besondere Gefährdung, wie wir sahen, auch inder doppeltorigen Anlage der Niederpforte beredten Ausdruck findet. Von diesen drei Türmen flankieren die beiden in NW und SW Knickstellen in der Mauerführung, der dritte liegt in der Mitte zwischen Agathator und NW-Turm, von beiden je 50 m entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite, beiderseits des Erfttores, das auch Ober- oder Mühlenpforte genannt wurde, zieht die Stadtmauer etwa 100 m direkt am Flußrand dahin. Hier sowohl als auch an der Südseite lehnen sich die Höfe der Ackerbürger unmittelbar an das Mauerwerk an, überragen es z. T. mit ihren darauf aufgesetzten Obergeschossen. Die West- und NW-Seite dagegen, also jene, die durch die Türme gesichert sind, liegen weithin frei, Gärten begleiten nicht nur ihre Außen-, sondern auch ihre Innenseite. Wie wenig umfangreich die ummauerte Fläche in ihrer Gesamtheit ist, erhellt am besten aus der Tatsache, daß die Entfernung des inneren Mauerrandes vom Ortsmittelpunkt nirgendwo 120 m überschreitet.

Die Burg

Du fragst nach der Geschichte des Städtchens. Wo könnte ich Dir besser davon erzählen, als auf dem nördlich vor den Mauern gelegenen niedrigen Hügel, der einst die Burg der Edelherrn von Kaster getragen hat! Also folgen wir der von der Hauptstraße nach N abbiegenden Kirchstraße, queren die schmalen Eulengasse und treten durch ein großes rundbogiges Portal, das das kurpfälzische Wappen trägt, in den heute größten Hof des Städtchens ein. Es ist die ehemalige Vorburg des Schlosses, der zu ihr gehörige Wirtschaftshof. Nach der zerstörung der Hauptburg im Jahre 1648 diente er als Sitz des jülichschen Kellners, d.h. des vom Herzog von Jülich bestellten Rentmeisters für das Amt Kaster. Auf diese spätere Funktion geht die Bezeichnung „Kellnerey“ für das Gebäude zurück. Im Gegensatz zum Hochschloß, dessen einstmaligem Standort wir zustreben, war die Vorburg in den Mauerring der Stadt einbezogen.

Wären wir in unserer Führung rein chronologisch vorgegangen, so hätten wir den Rundgang durch Kaster hier beginnen müssen und nicht am Agathator. Lange bevor es eine Stadt dieses Namens gab, existierte auf dem niedrigen Hügel auf dem wir jetzt stehen, die Burg eines altadligen Geschlechtes. Die Entwicklung knüpft also nicht wie im benachbarten Bergheim an eine bereits bestehende Siedlung an, vielmehr hat sich eine solche erst nach und nach im Anschluß an die Burg gebildet. Was spricht deutlicher dafür als der Name „Caster“! Er bedeutet keineswegs, wie man hin und wieder noch immer lesen kann, daß der Ort römischen Ursprungs ist. „Castrum“ ist die im Mittelalter übliche Bezeichnung für Burg schlechthin. Schau nur hinein in das Verzeichnis der Burgenerwerbungen Philipp v. Heinsbergs (1167-91), in denen die „castra“ aufgezählt werden, die dieser Kölner Erzbischof, der erste, der eine Territorialpolitik großen Stiles im Rheinland entfaltete, damals erworben hat. Du findest darin eine große Anzahl bekannter rheinischer Burgen wieder. Zwar nicht unser Caster! Seine Beziehungen weisen von vornherein nicht nach dem Erzstift Köln, sondern nach Jülich. Aber eben um dieselbe Zeit, in der der Kölner seinen großen Lehnshof auszubauen beginnt, im Jahre 1148, erscheint auch erstmalig im Erfttal ein Edelfreier, der sich nach seinem dortigen Castrum kurzerhand „v. Caster“ nannte. Nicht nur der Name, auch die Lage der Burg kennzeichnet ihre Priorität. Unser Plan zeigt sie nicht, wie etwa in Zons oder Lechenich, eingefügt in eine Ecke der Stadtbefestigung. Vielmehr hatte sie, wie schon angedeutet, gleich den älteren Landesburgen am Niederrhein ihren Standort auf einem Hügel vor den Mauern der Stadt, eingeschlossen von der Erft und einem von ihr abgeleiteten Wasserarm, der in unserem Führer als „Kellnerey-Graben“ bezeichnet ist.

Du ersparst es mir, die Geschichte der Burg und ihrer Besitzer im einzelnen darzulegen. Sie hat glanzvolle Tage gesehen, fungierte, als sie im 13. Jahrhundert an die Herrn von Jülich gekommen war, sogar eine gewisse Zeit lang als Sitz einer Nebenlinie dieses Grafen- und späteren Herzoghauses. Darüber hinaus hatte sie als Grenzburg die Aufgabe, die Ausfallstraße ihres Territoriums gegen Kurköln, jenen oben genannten Steinweg also, bei seiner Überführung über die Erft zu decken. Was ist von all der Herrlichkeit geblieben? Du siehst es: ein von Kellern und Gängen durchfurchter Hügel und etliche Fundamente! Seit das Schloß 1648 zerstört wurde, hat man es nicht wieder aufgebaut. Doch lange noch ragten recht umfangreiche Ruinen gegen Himmel.

Kasters Stadtentwicklung

Schauen wir noch einmal nach Süden hinüber zu der Stadt, die sich am Fuße des Burghügels entwickelt hat. Ihre Anfänge liegen gewißlich lange vor der Ummauerung. Zuerst waren es wohl die zum Schloß gehörigen „burchlude“, die sich hier ansiedelten. Eine ganze Reihe von namen solcher Burgmannen sind uns überliefert. Ihnen folgten Handwerker und Bauern. Vielleicht ist, wie in so vielen Städten des Niederrheins, der Ummauerung eine primitivere, lediglich aus Wall und Graben bestehende Befestigung vorausgegangen. Denn schon 1361 nennt eine Quelle „burch ind stat“ daselbst, aber als „villa murata“, als ummauerte Stadt, erscheint Kaster erst im Jahre 1405. Die städtische Verwaltung, die sich nach der Urkunde des gleichen Jahres aus den „burgimastri“ - es waren ihrer wohl zwei -, den „scabini“ (=Schöffen) und der „communitas“, aus de sich später der städtische Rat entwickelte, zusammensetzte, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die agrarische Seite stets die dominierende der Siedlung war. Weidgang und Viehtrift, die Unterhaltung von Stier und Eber, sind immer wiederkehrende Streitobjekte der Kasterer Ackerbürger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Wenn die Geschichte Kasters im Nachmittelalter keine Weiterentwicklung städtischer Eigenschaften gezeigt hat, vielmehr eine deutliche Rückentwicklung zur Dorfsiedlung offenbart, so scheint dafür vor allen Dingen eine Tatsache bestimmend gewesen zu sein: das Fehlen eines Marktes. Nirgendwo hören wir von einem Marktprivileg, überhaupt fehlen jegliche Nachrichten über dort stattgefundene Jahr- oder Wochenmärkte, wie es ja auch an einem eigentlichen Marktplatz mangelt. Damit aber ist dem Ort ein wichtiges städtebildendes und städteförderndes Moment vorenthalten geblieben. Doch hat er zweifellos als Mittelpunkt eines verhältnismäßig großen Amtsbezirks bis zum Beginn der französischen Revolution eine gewisse Bedeutung behalten. Als ihm dann jedoch diese Funktion genommen wurde, als auch die Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die die Bevölkerung mancher niederrheinischer Städte vervielfachte und ihnen ein ganz anderes Aussehen gab, ohne irgendwelchen Einfluß blieb, sank die Siedlung verwaltungsmäßig zu dem herab, was sie heute ist, einer Dorfgemeinde von wenig mehr als 500 Einwohnern.

Du wirst ihr deshalb gewißlich nicht gram sein, lieber Leser. Vielleicht sagst Du mit mir: Gott sei Dank, daß es so und nicht anders gekommen ist! Und die Tatsache, daß das moderne Verkehrsrollen ohne Halt an dem Städtchen vorübereilt, ist Dir nun nicht mehr Verdruß, sondern eine stille Freude.

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