Kölnische
Rundschau vom 20. Dezember 1950
Beilage
der Kölnischen Rundschau - Dezember 1950
An Erft und
Gilbach - Heimatblätter für den Kreis Bergheim - Nr. 14
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Der Landkreis
Bergheim vor 90 Jahren
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Von Dr. Hans Köhler (Köln)
Nach der jüngsten
Volkszählung vom September 1950 wurden im Kreise Bergheim
92.235 Einwohner gezählt, das sind rund 3,3mal soviel wie im
Jahre 1816, als die erste zuverlässige Zählung der
Kreiseinwohnerschaft durch die kurz zuvor errichtete preußische
Verwaltung durchgeführt wurde. Auch wenn man den hohen Anteil
von 15.650 Flüchtlingen und Evakuierten, die zusammen fast 17 %
der heutigen Bevölkerung ausmachen, abzieht, bleibt eine
Steigerung auf 274 % der Ausgangszahl. Diese für einen
Landkreis recht hohe Steigerung seiner einheimischen Bevölkerung
setzte hier allerdings erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein,
als mit dem Bergbau in seiner modernen Form zugleich auch andere
Industrien in dem vorher rein landwirtschaftlich orientierten Kreis
Fuß faßten.
Wie die Verhältnisse im Kreis
lagen, als praktisch noch gar keine Industrie vorhanden war, zeigt
uns eine Statistische Darstellung des Kreises Bergheim,
die der damalige Landrat Freiherr Raitz von Frentz zunächst
für die Jahre 1859, 1860, 1861 verfaßt hat.
Derartige Darstellungen über die Verhältnisse der
Landkreise verlangte damals die preußische Regierung von allen
Landräten, und sie sind eine wertvolle historische Quelle, weil
sie in eine Zeit fallen, in der in den meisten Gebieten die
Industrialisierung noch nicht oder eben erst begonnen hatte.
Infolgedessen hatte auch in den rein ländlichen Gebieten - und
zu ihnen muß man damals den Kreis Bergheim rechnen - noch
keine stärkere Landflucht eingesetzt, die später auch hier
zeitweilig Rückgänge der Bevölkerung ausgelöst
hat.
Bei Übernahme der Herrschaft in den Rheinlanden
durch Preußen hatte der Landkreis Bergheim 28.000 Einwohner
gezählt. In gleichmäßiger ruhiger Steigerung war die
Zahl Ende 1861 auf 40.168 angewachsen. Es ist auffallend, daß
bereits damals gewisse Unterschiede im Größenwachstum der
Gemeinden auftreten. Während der Bevölkerungszuwachs
1816-61 im Durchschnitt des Kreises 43 vH betrug, zeigen rein
ländliche Gemeinden und Orte wie Kaster oder Pütz nur
Steigerungen von 5 bis 10 vH, während Orte mit etwas stärkerem
gewerblichen Leben über den Mittelwert hinausgehende
Bevölkerungszunahmen aufweisen; der Flecken Kerpen
z.B. hatte 1861 mit 2837 Einwohnern 70 % mehr als 1816 und war
damals (und noch bis gegen 1930) der größte Ort im Kreise
überhaupt. Besonders stark waren die Steigerungen in den beiden
einzigen Orten, die damals eine Bahnverbindung hatten, in Buir mit
80 % und Horrem - Hemmersbach mit 104 %. Der Punkt, wo die Bahnline
Köln - Aachen - eröffnet am 6. September 1841 - die
Hauptverkehrsachse des Kreises, das Erfttal, schneidet, erwies sich
also bereits damals als der dynamischste des ganzen Gebietes und hat
es ja tatsächlich bis heute auf eine mehr als 10fache
Steigerung seiner Einwohnerzahl gegenüber 1816 gebracht.
Weit
unter dem Durchschnittswert des Kreises blieb dagegen noch Bedburg:
1861 zählte die Stadt erst 784 Bewohner, 24 % mehr als 1816,
während sie heute mit 3.840 Einwohnern rund die 6fache Größe
erreicht hat; die Steigerung setzte in dem Augenblick ein, als sich
dort nach dem Bahnbau Düren - Neuß (1867) die Industrie
mit drei großen Betrieben niederließ. Auch Bergheim
hatte 1861 seine Bevölkerung gegen 1816 nur um 20% vermehren
können, wobei das eigentliche Städtchen sogar noch
Einwohner eingebüßt hatte und die Steigerung allein in
Bergheimerdorf zu verzeichnen war; hier lebten 549 Menschen gegen
523 in Bergheim Stadt.
Die Braunkohlenindustrie des Kreises,
heute nicht nur im Rahmen des rheinischen Reviers, sondern darüber
hinaus der ganzen Bundesrepublik von hervorragender und steigender
Bedeutung, war vor 90 Jahren nicht mehr als ein kleingewerbliches
Unternehmen. Sie hatte lediglich örtliche Bedeutung, da ihre
Produkte, die Klütten, nur als Hausbrand abgesetzt
werden konnten. Diese Klütten waren ja nichts
anderes als mit Wasser vermengte, in Blumentopfähnliche Formen
gegebene und dann an der Luft getrocknete Rohbraunkohle, deren hoher
Wassergehalt ihnen einen nur geringen Heizwert gab, so daß es
nicht lohnte, sie weithin zu verfrachten, zumal die Konkurrenz der
Steinkohle, die durch die Eisenbahnen ins Land kam, immer stärker
wurde. Immerhin gab die Braunkohle, wie von Frentz in seinem Bericht
vermerkt, dem größten Teil des Kreises ein gutes
und billiges Brennmaterial. Auch war ihre Asche als
Düngemittel vom Landmann seit langen sehr geschätzt und
wurde zu hohen Priesen aufgekauft.
Im Jahre 1861 gab es im
Kreise Bergheim 10 Braunkohlegruben, von denen Beißels-Grube
bei Ichendorf und Grube Giersberg-Fortuna bei Oberaußem,
das Kernwerk der Rheinischen AG, noch heute existieren.
Die anderen Unternehmen sind zum Teil verschwunden, zum Teil ist die
Gerechtsame in andere größere Gruben übergegangen.
Es handelt sich um die Gruben Glücklicher Fall in
Gemeinde Bedburg, Urwelt und Schlenderhan,
heute in Fortuna aufgegangen, Röttgen, später
von der Horremer Brikettfabrik ausgebeutet, Maximilian
bei Türnich, eine selbständige Grube bis 1930,
Wolfswerk, Eigentum der Kirchengemeinde zu Bottenbroich,
später mit Maximilian vereinigt, Wirtzhütte
bei Balkhausen, auf dem Feld Colonia selbständig
betrieben bis 1907, und Wallraf, ein Feld, das später
in die Konzession Hubertus überging.
Die
Gesamtförderung der 10 Gruben betrug um 1860 rund 275.000
Tonnen im Jahr; dagegen wurden im Jahr 1949 fast 27 Millionen Tonnen
Rohbraunkohle bei uns gefördert. Beschäftigt waren etwa
210 Personen, heute dagegen rund 7.300. Mit besonderer Betonung
bemerkt unser Bericht, daß auf dem 1859 neu gegründeten
Etablissement zur Gewinnung von Braunkohle Grube
Fortuna des Johann Peter Meul zu Niederaußem eine
Dampfmaschine von 25 Pferdekräften aufgestellt worden sei,
während alle anderen Gruben nur mit Menschenkraft arbeiteten.
Überhaupt konnte man die Zahl der im Kreise vorhandenen
Dampfmaschinen an einer Hand aufzählen. Christian Schmitz zu
Zieverich besaß allein zwei davon: die eine (von 1 PS!) in
seiner Kammgarnspinnerei, die wohl das damals größte
Unternehmen im Kreise vorstellte, die andere (8 PS) in einer
Sägemühle. Ferner gab es in Buir eine Dampfmahlmühle
(25 PS) und - auch sie ist erwähnt! - eine Dampfmaschine von PS
zum Betrieb einer Wasserpumpe beim Bahnhof Horrem der Rheinischen
Eisenbahn-Gesellschaft. Sonst scheint noch das Eisendrahtwerk des
Kaufmanns Merkens in der Mödrather Mühle von Bedeutung
gewesen zu sein, in dem von 30 Arbeitskräften Nadeln aller Art
hergestellt wurden.
Auch sonst zeigt die gewerbliche
Struktur des Kreises damals manche Eigentümlichkeiten;
insbesondere ist eine stärkere Betonung der bodenständigen
Gewerbe wie Öl- und Getreidemühlen, Hauswebereien,
Holzwarenhersteller, Korbmacher, Fischer, Töpfer u.a.
festzustellen. Doch wenden wir uns dem anderen großen
Wirtschaftszweig, der Landwirtschaft, zu!
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Blick
in den Schloßhof in Paffendorf
Zeichnung: Von den Hoff
Die Landwirtschaft, von Anbeginn der Besiedlung ab die
hauptsächlichste wirtschaftliche Betätigung des Menschen
unseres Gebietes, ernährte 1861 42 % der Bevölkerung,
wobei sogar noch die Angaben über die Angehörigen der
landwirtschaftlichen Arbeitnehmer fehlen; 1939 dagegen war der
Anteil der land- und forstwirtschaftlichen Bevölkerung auf 15 %
der Gesamtbevölkerung herabgegangen. Der Feldanbau ging hier
noch in den Formen vor sich, wie sie sich nach Aufhebung des alten
Flurzwanges durch die Franzosen herausgebildet hatte. Erst dadurch
war ja eine Freiheit des Fruchtwechsels hergestellt worden, und es
war möglich gewesen, von der überkommenen Zwei- und
Dreifelderwirtschaft zu vier, fünf, ja bis zu selben Feldern
überzugehen. Das war ein großer Vorteil, weil hierdurch
das Brachland, das vordem die Hälfte oder ein Drittel des
ganzen bebaubaren Landes eingenommen hatte, mehr und mehr
zurückgedrängt werden konnte. Um 1860 nahm sie nur noch
etwa 10 % der Ackerfläche ein.
Fast ein Fünftel
des Landes wurde mit Weizen bestellt, welcher auch das
Hauptausfuhrprodukt des Kreises darstellte und zum Teil nach Belgien
ausgeführt wurde. Roggen, Gerste und Hafer folgten mit 10-12 %
der Anbaufläche, und im gleichen Verhältnis wurden auch
die später fast verschwundenen Ölfrüchte angebaut;
allein 13 Ölmühlen dienten der Verarbeitung dieser
Produkte. In dem an natürlichem Grünland armen Kreis
spielte der Anbau von Klee und Futterkräutern (17 % der Fläche)
eine große Rolle, dagegen traten Kartoffeln und Rüben mit
je 3 % stark zurück. Gerade hierin hat sich ja 10 Jahre nach
dem Datum unseres Berichtes eine ganz entscheidende Umwälzung
mit der Einführung der Zuckerrübe angebahnt, wodurch auch
die ganze übrige Struktur der heimischen Landwirtschaft von
Grund auf geändert werden sollte.
Von sehr großer
Bedeutung für die beteiligten Gemeinden sollte auch die
Melioration der Erftniederung werden, die im Jahre 1861 bereits
begonnen hatte und in den nächsten Jahren ausgeführt
wurde. v. Frentz sagt über ihre Notwendigkeit, daß die
Aufstauungen des Erftflusses die Wiesen an ihm sehr naß
machten, so daß sie zwar ein massenhaftes, doch
durchgehends geringe Nährkraft haltendes Futter
lieferten. Das in den Niederungsorten auftretende Nerven- und
Wechselfieber der Bewohner führt er auf die
aufsteigenden Dünste zurück; in Wirklichkeit
handelt es sich um Malaria, die früher im Rheinland viel
verbreiteter war, als allgemein bekannt ist.
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Alte
Tür in Kerpen
Zeichnung: H. J. Baum
Wie hier an der
Erft eine gründliche Umgestaltung der Landschaft eingeleitet
wurde, so waren auch an anderen Stellen des Kreises neue
landwirtschaftlich nutzbare Flächen entstanden, und zwar durch
Waldrodungen. Verschiedene Einzelsiedlungen waren auf den gerodeten
Flächen neuentstanden, z.B. die Höfe Neu-Etzweiler,
Sittarder Hof und Laacher Hof (später Haus Tanneck genannt) im
Gebiet der Gemeinde Heppendorf; Escherbrücke, Eschergewähr
und Sophienerde auf dem 1855 aufgeteilten Walde Eschersgewähr
oder im nördlichen Teil der Ville Giersberg und Harffer Eiche.
Andererseits waren aber damals noch manche Wälder
bedeutend größer als heute. Unter ihnen spielen die
Gemeindewälder, die auch heute noch 36 % der Waldflächen
des Kreises einnehmen, seit je eine bedeutende Rolle. Während
die große Elsdorfer Bürge seit vielen Jahrhunderten
gemeinsames Eigentum mehrerer Dörfer war und ist, hatte Kerpen
als Einzelgemeinde den größten Waldbesitz: den Parrig mit
470 Morgen und den Gewäldebusch von 1522 Morgen. Wer damals in
Kerpen zuzog, hatte ein Einkaufsgeld zu entrichten, das ihn zur
Nutzung am Gemeindewald berechtigte. Sonstige Gemeindesteuern
brauchten in Kerpen als der einzigen Gemeinde im Regierungsbezirk
Köln wegen der Größe des Gemeindevermögens,
d.h. vor allem der Wälder, nicht entrichtet zu werden. Später
wurde der Gewäldebusch zum Teil gerodet, zum Teil verkauft, so
daß heute die Gemeinde dort nur noch 330 Morgen zu eigen hat.
Auch die Forstwirtschaft hat in den vergangenen 90 Jahren
wesentliche Veränderungen erfahren. Während heute die
ertragreichste Bewirtschaftungsart, der Hochwald, in knapp 60 vH der
Wälder vorherrscht, nennt v. Frentz nur einen Anteil von 20 vH.
Der Rest wurde zur Hälfte als Mischwald, zur anderen Hälfte
als nur Stockausschlag liefernder Niederwald bewirtschaftet.
Verschiedentlich gab es auch Eichenschälwald, der den 8
Gerbereibetrieben an der Erft die notwendige Eichenlohe lieferte.
Soziale Verhältnisse
Unter der Überschrift
Verhältnisse der arbeitenden Bevölkerung, Abwehr der
Verarmung beschäftigt sich Landrat von Frentz mit den
sozialen Verhältnissen der arbeitenden Klassen. Er gibt an, daß
sich der Jahresgeldbedarf einer 5köpfigen Tagelöhnerfamilie
auf etwa 168 Taler belaufe, und daß Weber und gewöhnliche
Handwerker sozial mit ihnen auf gleicher Stufe stünden.
Demgegenüber wurden Tagelöhne verdient, die im allgemeinen
noch unter heutigen Stundenlöhnen lagen: Maurer- und
Zimmergesellen erhielten als bestbezahlte Handwerker 12-13
Silbergroschen je Tag, Tagelöhner in der Landwirtschaft im
Sommer 10-15, im Winter 8-12 Silbergroschen und Gesellen der übrigen
Handwerke 3 bis 6 Silbergroschen bei freiem Essen. Trotz des nach
heutigen Begriffen geringen Geldbedarfs reichte damit im allgemeinen
der Verdienst eines Mannes nicht aus, den jährlichen Geldbedarf
seiner Familie zu decken; eine Existenz war nur möglich, wenn
die Frau und möglichst früh auch die Kinder Arbeit
annahmen, wofür den Frauen in der Landwirtschaft nur 6 bis 10,
im Winter 5 bis 8 Silbergroschen täglich geboten wurden.
Ein
Vorteil allerdings war, daß die arbeitende Klasse zu einem
großen Teil nicht ganz besitzlos war. Die
Realteilung hatte sie vielfach mit eigenem, wenn auch oft kleinstem
Grundbesitz versehen, wo sie ihr eigenes Häuschen und einen
Garten hatten und damit doch eine oder zwei Ziegen, manchmal auch
eine Kuh, halten konnten. Aber dies war nur eine gewisse
Erleichterung ihres allzu dürftigen Lebens, und oft mußte
die Armenpflege mit bedeutenden Opfern helfend einspringen.
Es fehlte wohl auch häufig an hinreichenden
Arbeitsmöglichkeiten, zum Teil auch am rechten Arbeitswillen,
so daß manche Familien der ärmeren Volksklassen sich auf
Bettelei verlassen mußten.
Als sozialer Fortschritt
insbesondere zur Bekämpfung des Wuchers wird vom Landrat die
Gründung der Kreis-Spar- und Darlehnskasse
bezeichnet, die am 15. Dezember 1855 ihre Tätigkeit aufnahm.
Sie hatte von Ende 1858 bis Ende 1861 ihren Einlagenbestand von 4316
Taler auf 34.373 Taler erhöhen können.
So bietet
uns der Bericht aus dem Jahre 1861 einen wertvollen
kulturhistorischen Querschnitt, der ihn uns trotz seines trockenen
Stiles sehr interessant macht.
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