893-1993: Ein Jubiläumsjahr nimmt Gestalt an
Das Prümer Urbar schreibt Dorfgeschichte

von Dr. Reinhold Weitz

Auf über tausend Jahre örtlicher Geschichte zurückzublicken, hat in der alten Eifeler Kulturlandschaft keinen besonderen Stellenwert. Etwas anderes ist es jedoch, wenn mehr als 24 Dörfer im Kreisgebiet 1993 das Recht haben, an den 1100. Jahrestag ihrer schriftlichen Ersterwähnung zu erinnern. Den gewichtigen Anlaß liefert das berühmteste mittelalterliche Güterverzeichnis in Deutschland, das 893 vom Chronisten Renino erstellte Prümer Urbar, in dem die karolingische Reichsabtei nach den Normannenstürmen ihre Rechts- und Besitztitel zusammengefaßt hat. Auf über 100 Pergamentseiten in kunstvoller Schrift liegt es in einer kommentierten, späteren Abschrift des Abtes Caesarius aus dem frühen 13. Jahrhundert vor. Die Ortsnamen werden in der Form des Hochmittelalters wiedergegeben, da die alten Namen unverständlich geworden waren. Die Verlehnungen an Prümer Vasallen oder die Hinweise auf neue Herren zeigen, daß der Grundbesitz der Abtei bereits stark geschmälert war.

Bei der Durchsicht der Kapitel stößt man im heutigen Euskirchener Euskirchener Kreisgebiet auf eine dichte Folge von Orten, die sich um das Stift Münstereifel lagern und mit dem Stichjahr oder sogar schon davor bzw. kurz danach ganz oder teilweise zur Prümer Grundherrschaft gehören.



Aus dem Gebiet der heutigen Stadt Bad Münstereifel sind dies: Arloff, Effelsberg, Eicherscheid, Hospelt mit der Mutscheid, Kirspenich, Mahlberg, Nöthen und Schönau. Iversheim, dem ein großes Kapitel gewidmet ist, wird wiedererwähnt. Mit „De Rode(n)re“ dürfte entgegen der älteren Literatur nicht Rodert, sondern Roderath in der Gemeinde Nettersheim gemeint sein.

Aus dem Blankenheimer Gemeindegebiet zählen Rohr und Dollendorf zu den Jubiläumsorten, obwohl das letztere zweifelsohne älter als 893 ist und sich eher auf den Liber Aureus quellenmäßig beziehen kann.

Aus der Gemeinde Nettersheim sind Buir, Nettersheim, Zingsheim und Pesch zweifelsfrei für 893 nachzuweisen, und auch Roderath gehört mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu. Bei Frohngau kann nur über den Kontext der Schreibweise „Gouwa“ von 867 auf den heutigen Ort gefolgert werden. Tondorf taucht 898 als Prümer Besitz auf. Antweiler, Floisdorf, Holzheim, Roggendorf und Wachendorf im Kommunalbereich Mechernich werden im Urbar von 893 namentlich erwähnt. Eiserfey wird hier auch als Siedlung von Prümer Benefizariern erwähnt. In Gilsdorf, Harzheim, Satzvey und Weyer gibt es älteren Besitz der Reichsabtei.

Die Stadt-Euskirchener Ortsteile Kreuzweingarten und Hockenbroich (-Kirchheim) lassen sich für 893 nachweisen, der Prümer Besitz in (Groß-) Büllesheim und Kessenich ist älteren Datums.

Auch die Dörfer Bürvenich, Enzen und Langendorf als heutige Zülpicher Stadtteile gehören zu den Jubiläumsorten, während Elvenich 855 und Wichterich 866 schon in Prümer Quellen auftauchen.

Der Überblick zeigt einige Unsicherheiten in der örtlichen Zuordnung, läßt aber keinen Zweifel an der Bedeutung der geistlichen Grundherrschaft und der großen Zahl der Ortschaften, die sich an ihre Anfänge mit oder ihre Bindung zur Prümer Reichsabtei erinnern dürfen.

Das Prümer Urbar ist eine unschätzbare Quelle zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, da mehr als 1.800 Bauernhöfe in der Eifel, am Mittel- und Niederrhein, aber auch im heutigen Belgien, in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden der Abtei zinspflichtig waren. Gezinst wurden an tierischen Produkten vor allem Schweine, Hühner, Eier, Pferde, Fische und Wolle. An pflanzlichen Abgaben kamen Getreide, Wein, Flachs, Lohe, Bau- und Brennmaterialien dazu. Die Mönche waren auch auf die vielerlei Arbeitsleistungen der Bauern angewiesen, wozu etwa das Pflügen, Eggen, Jäten, Ernten, Umzäunen der Gärten und Wiesen, die Weinbergarbeiten sowie das Brauen und Backen gehörten. Auf den Herrenhöfen gab es zahlreiche landlose Arbeitskräfte. Die hörigen Bauern hatten als Entschädigung für das ihnen vom Kloster verliehene Land einen Teil der Produkte und ihrer Arbeitszeit für das Herrschaftsgut zu stellen. Der Transport der gewaltigen Gütermengen nach Prüm geschah auf den sogenannten Engerfahrten (angaria), die oft mehrere Tage dauerten und mit Ochsenkarren durchgeführt wurden. Den „postalischen“ Verkehr zwischen der Reichsabtei und ihren weitverstreuten Gütern besorgten eigene Boten, sog. Scharmannen (scararii), die hierfür mit klostereigenen Pferden ausgerüstet wurden.

Die zahlreichen Prümer Besitzungen in der Nordeifel, im Vorland an der Erft und in der Börde sind um das Stift Münstereifel herum zentriert. Ein beredtes Beispiel für die dortige Art der klösterlichen Grundherrschaft liefert das Urbar-Kapitel 55 des allerdings schon vor 893 erstmals erwähnten Iversheim. In wörtlicher Übersetzung aus dem Lateinischen lautet der Auszug:

„In Iversheim liegen 27 Höfe (Mansen). Jeder von ihnen zahlt ein Schwein im Wert von 2 Schillingen (24 Denaren). Alle zwei Jahre zahlen sie ein Geschenk-Schwein (junges Tier) im Wert von 4 Denaren, alle drei Jahre 100 Schindeln. Er (jeder Hof) zinst ein halbes Pfund Leinen oder 12 Denare, wenn er keinen Flachs hat. Wenn Leinen im Überfluß vorhanden ist, wird ein halbes Pfund davon abgegeben und ein ganzes Hemd genäht. Er zahlt im Monat Mai für das Wehrgeld (hostilicium) 6 Denare - ferner 3 Hühner, 15 Eier, an Mist 10 Karren oder an Brennholz 5 Karren. Jeder Bauer (einer Manse) bearbeitet im Herbst eineinhalb Joch und im Frühjahr ebensoviel. Er leistet zwei „corvada“-Arbeitstage im Jahr. Er verfertigt ein Zaunstück innerhalb des Herrenhofs und das Getreidefeld und in den Weinbergen von 24 Maßen (mensurae). Zweimal im Jahr leisten sei „15-Nächste“ Fronarbeit, sie backen Brot und brauen Bier. Sie unternehmen die Engerfahrten (angaria) nach Prüm mit Korn und Wein und eine zweite von der Ahr. Sie leisten einen Botendienst (als scararii) nach Prüm, nach Aachen, nach Köln, nach Bonn und nach St. Goar teils zu Pferde teils zu Fuß. Sie dreschen das Getreide, vom Spelt 15 Scheffel oder vom Roggen 7 ½ Scheffel. Sie fertigen 100 Pfähle für den Weinberg, im Garten (des Herrenhofs) pflegen sie ein Beet. Sie mähen und sammeln das Heu (des Herrn). Zur Kornernte entsenden sie täglich einen Knecht, zur Weinlese ebenso. Sie sammeln und reinigen das Leinen. Sie waschen die Pallien und Altartücher der Kirche. Sie hüten 15 Nächte Wache auf dem Herrenhof. Es gibt Herrenland für 122 Scheffel (Saatgetreide) zur Herbstsaat und 36 Scheffel zur Frühjahrssaat, Weinberge für 30 Fuder und Wiesen für 6 Fuhren. Der Wald am „Batiberg“ ist für 200 Schweine geeignet, in „Tegensceit“ ein gemeinsamer (Wald) für 200 Schweine, in „Appenhert“ und in „Murkinsceit“ für 200 Schweine (...)

Summa (von Iversheim):
Es gibt dort 27 Höfe (Mansen). Sie zahlen 27 Scheine oder 54 Schillinge. In einem Jahr zahlen sie 27 „Geschenk-Schweine“ oder 108 Denare, im anderen Jahr 2.700 Schindeln. Vom Leinen zahlen sie 27 halbe Pfund, für das Wehrgeld 182 Denare. An Hühnern geben sie 81, an Eiern 405, an Karren Mist 270. Sie bearbeiten 40 ½ Joch Herrenland im Herbst, im Frühling ebensoviel. Zur Engerfahrt nach Prüm stellen sie 13 ½ Karren. Sie liefern an Spelt 405 Malter. Es gibt Weinberge für 30 Fuder und Wald für 600 Schweine. Sie fertigen 2.700 Pfähle für die Weinberge.“

So dinglich genau die Angaben auch sind, der heutige Leser weiß sie kaum einzuordnen. Er braucht Übersetzungs- und Verständnishilfen, um die mittelalterlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse auf dem lande zwischen 900 und 1200 n. Ch. durchschauen zu können. Für das Festjahr 1993, wenn sich die Ortschaften in ihren Jubiläumsfeiern auf die Ursprünge ihrer Geschichte besinnen wollen, ist deshalb eine neuhochdeutsche Übersetzung und Kommentierung des Urbars eine dringliche Aufgabe.

Es ist verdienstlich, daß auf Prümer Initiative - vor allem des dortigen Geschichtsvereins - eine Gruppe von Fachleuten das Güterverzeichnis neu herausgeben und erläutern will. Der Euskirchener Kreisgeschichtsverein wird in Absprache mit dem Übersetzer, Pfr. K. Nösges, einige Kapital überarbeiten und für den Raum der Nordeifel gezielt auswerten, so daß eine Lese- und Verständnishilfe gegeben ist. Sie erscheint als einleitender Aufsatz des Bonner Mittelalterhistorikers Dr. W. Herborn in der Jahresschrift „Geschichte im Kreis Euskirchen“, die im übrigen durch lokale Beiträge zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte der Linie zeitlich weiterverfolgt, die im Prümer Urbar grundgelegt ist.


Grablegung Kaiser Lothars in Prüm (gezeichnet nach der Buchmalerei des Prümer Urbars von H. Michels, Prüm)

Das Jubiläumsjahr nimmt inzwischen Kontur an. Auf drei gut besuchten Vorbereitungstreffen, zu denen der Kreisgeschichtsverein nach Blankenheim und Nettersheim eingeladen hatte, ist den Ortsvertretern und Heimatgeschichtsfreunden Grundwissen vermittelt worden und sind praktisch-organisatorische Fragen zur Sprache gekommen. Die Festlichkeiten werden sich über ein halbes Jahr von Ende April bis zum Oktober-Anfang hinziehen, so daß trotz der Zahl der Festorte die Dörfer ihren eigenen Termin im allgemeinen nicht mit anderen zu teilen brauchen und damit eine größere Publizität erzielen können. Das Jubiläum hat bereits viele Aktivitäten ausgelöst und mancherorts die dörfliche Zusammenarbeit zusätzlich belebt. Neben historischen Umzügen, die man sich nicht nehmen lassen will, wird es eine Prozession im alten Stil geben. Chorkonzerte und Handwerkermärkte, Fotoausstellungen und Präsentationen von Geräten aus der alten bäuerlichen Lebens- und Arbeitswelt ergänzen das Programm, für das man mehrere Tage vorgesehen hat und das von geselligen Veranstaltungen eingerahmt wird.

In fast allen Urbar-Orten laufen die Planungen bereits. Bisher wollen 17 Dörfer auch eine Festschrift herausgeben, die in der Art einer Chronik einige Kapitel der dörflichen Geschichte in Bild und Text aufarbeitet. Neben unterschiedlich verfügbarem Fachwissen versprechen Sammelfreude und Begeisterung für die Sache aufschlußreiche Ergebnisse. Da die Orte des Münstereifeler Unterzentrums den Schritt unter der Herrschaft der Fürstabtei Prüm (bis 1576) nicht mitvollzogen haben und unter andere Herren kamen, sind die politischen Reminiszenzen an die Prümer Zeit gering. Es wäre daher mehr als ein öffentlichkeitswirksamer Gag, sondern ein symbolisch wiederaufgenommener Rechtsbrauch, eine gemeinsame Engerfahrt nachzuspielen. Die zentrale Festwoche in Prüm könnte Gelegenheit sein, mit Ochsen- und Pferdefuhrwerk eine Naturallieferung in die Abtei zu bringen, wie es jahrhundertelang die klosterhörigen Bauern aus unseren Dörfern getan haben.


Anmerkungen

Das Prümer Urbar ist von I. Schwab als Band 5 der Reihe „Rheinische Urbare“, Düsseldorf 1983, herausgegeben worden. Dieser Veröffentlichung ist die Übersichtskarte entnommen. Eine von I. Schwab und R. Nolden kommentierte Neuauflage der Dissertation von M. Willwersch (1911) mit dem Titel „Die Grundherrschaft des Klosters Prüm“ erschien 1989 in Trier.

Der Auszug aus dem Breve 55 stützt sich auf die Übersetzungen von Pfr. K. Nösges und Dr. W. Herborn. Einige Sachaussagen sind aus einem Anschreiben des „Geschichtsverein Prümer Land e.V.“ vom Mai 1992 übernommen worden.

Quelle: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1993

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