Die Geschichte vom „Langen Emil“ und vom „Kurzen Carl“
Am 28. Oktober 1961 wurde Mechernichs Wahrzeichen gesprengt

Von Anton Könen

Was für die Kölner der Dom ist, war für die Mechernicher 76 Jahre lang, von 1885 bis 1961, der „Lange Emil“. Egal aus welcher Himmelsrichtung man sich Mechernich näherte, erblickte man ihn, den Riesenschornstein, das Wahrzeichen des Ortes. Wie hieß es in dem Gedicht von Wilhelm Joswiak:

„Solange er raucht, gibt's keine Not,
solange verdienen die Kumpels ihr Brot.“

Doch wie kam es zum Bau dieses Riesen? Der Mechernicher Bergwerks Actien-Verein (MBAV) nahm 1869 die Magdalenenhütte (Bleihütte) in Betrieb. Sie besaß zur Aufnahme der bei Rösten entstehenden schwefelhaltigen Säuren und des dabei mitgeführten Flugstaubes ein spezielles Kammersystem mit einem Fassungsvermögen von 10.015 Kubikmeter. An dessen Ende konnten die Gase durch einen 66 Meter hohen Schornstein in die Atmosphäre entweichen. 1884 traf ein Blitzschlag diesen Schornstein und beschädigte ihn stark. Da eine Instandsetzung nicht sinnvoll erschien und neu technische Entwicklungen eine Erweiterung der Anlage erforderten, entschloß sich die Leitung des Mechernicher Bergwerks Actien Vereins, einen Schornsteinriesen zu bauen.

Geplant wurde er mit einer Höhe von 125 Meter. Bei der Ausführung aber ging man bis auf eine Höhe von 134,6 Meter. Bei dieser Höhe blieb die Bevölkerung von Mechernich und der umliegenden Ortschaften von den giftigen Dämpfen, die der Schornstein ausstieß, weitgehend verschont. Sie lagerten sich nicht bei ihnen, sondern erst in weiter Entfernung ab. St. Florian ließ grüßen! Mit seinen 134,6 Meter Höhe war der „Lange Emil“ bei der Fertigstellung der höchste Schornstein Europas. Er verdrängte den bisher höchsten, den der chemischen Fabrik St. Rollox in Glasgow, der eine Höhe von 132,5 Meter aufwies, auf den zweiten Platz. 1888 wurde der „Lange Emil“ von dem Halsbrücker Schornstein bei Freiberg in Sachsen mit einer Höhe von 140 Meter auf den zweiten Platz verwiesen.


Der „Lange Emil“ und der „Kurze Carl“

Im Sommer 1884 begannen die Bauarbeiten. Zuvor entstand eine Ringofen-Ziegelei zur Herstellung der benötigten Ziegelsteine. So war das Unternehmen, was das Baumaterial betraf, autark und konnte die Qualität und die Menge der produzierten Steine selbst bestimmen. Vor Eintritt der Herbststürme stellte der MBAV den Baubetrieb aus Sicherheitsgründen bei einer Höhe von 23 Metern ein. Die Werksleitung wollte ein Unglück vermeiden, wie es sich am 13. Oktober 1870 beim Bau eines Schornsteins bei der Anlage „Virginia“ ereignete. Dort wurden die Bauarbeiten bei orkanartigen Stürmen fortgesetzt. Ein Sturmwirbel erfaßte damals das über 30 Meter hohe Baugerüst und riß es mit acht Arbeitern, die dabei ihr Leben verloren, zu Boden.

Am 14. April 1885 wurde weiter gebaut, und am 19. September 1885 wurde das Bauwerk vollendet. Fast gleichzeitig mit dem „Langen Emil“ entstand auf dem Werksgelände ein zweiter, 86 Meter hoher Schornstein, der „Kurze Carl“. Im Jahre 1894 übernahm Bergrat a. D. Emil Kreuser, ein Sohn eines der Gründerväter de MBAV, die Werksleitung. Seine enorme Körpergröße, die ihn gegenüber seinen Mitmenschen auszeichnete, veranlaßte den Volksmund, den Riesenschornstein nach ihm zu benennen. Namenspate für den kleineren Bruder, den „Kurzen Carl“, wurde das Mitglied des Verwaltungsrates des MBAV, Carl Kreuser, der auch Stifter des Altenheimes und Waisenhauses in Mechernich war.


Größenvergleich

Mit dem Bau des „Langen Emil“ wurde das bisher bestehende Kondensationskammer-System, welches den Flugstaub aufnahm, von einem Fassungsvermögen von 10.015 Kubikmeter auf 23.000 Kubikmeter erweitert. Das Kammersystem hatte jetzt eine Länge von fast 120 Metern, ehe es den „Langen Emil“ erreichte. In diesem Kammersystem schlug sich ein beachtlicher Teil des Bleioxyds an eingehängten Platten nieder. Dieses System verfolgte einen doppelten Zweck. Zum einen wurde hier im Ansatz Umweltschutz betrieben, zum anderen fand der hochprozentige Niederschlag Eingang in die Produktion. Die Reinigung der Kammern geschah in der Regel zwischen Weihnachten und Neujahr.

Die technischen Daten des „Langen Emil“ waren eindrucksvoll und für die damalige Fachwelt zum Teil verwirrend. Die geringe Fundamentfläche von nur elf Meter Seitenlänge für diesen Schornsteinriesen erschien ihr unbegreiflich. In der „Deutschen Bauzeitung“ vom 18. November 1885 stand zu lesen, daß namhafte Fachleute an den Mechernicher Bergwerks Actien-Verein herantraten, um Auskünfte über die technischen Daten des Schornsteins zu erhalten. Die Ingenieure schrieben, daß nach ersten Berechnungen bei der Höhe des Bauwerkes, ohne Berücksichtigung des Winddruckes, auf den Quadratmeter Baugrund eine Belastung von 44.000 Kilogramm komme. Nach den bis dahin verbindlichen Belastungsgrenzen erschien es überaus bedenklich, eine höhere Belastung als 25.000 Kilogramm auf dem Quadratmeter zuzulassen.

Der Mechernicher Bergwerks Actien-Verein teilte den Interessenten mit, der Baugrund bestehe aus festem Grauwacke-Schiefer und könne noch eine höhere Belastung tragen. Einige technische Daten mögen die Besonderheiten des Bauwerks verdeutlichen. Der Fundamentbau, aus Bruchsteinen ausgeführt, wies an der Erdoberfläche eine Seitenlänge von elf Meter auf, in der Fundamentgrube zwölf Meter Seitenlänge. Der Fundamentbau erreichte eine Höhe von 3,5 Meter. Der Sockel von zehn Quadratmetern, der aus dem Quadrat in ein Achteck überging, in Ringofen-Ziegelsteinen ausgebildet, erreichte eine Höhe von zehn Metern. Hinzu kamen noch zwei vorspringende Pfeiler an der Seite der Einführung des Rauchkanals von zusammen zwei Quadratmetern. Die belastete Bodenfläche betrug 12x12+2=146 Quadratmeter; das Gesamtgewicht des Schornsteins nach spezieller Berechnung 5.512.650 Kilogramm. Die Belastung pro Quadratmeter Baufläche stellte sich mithin auf 5.512.650 : 146 = 37.757 Kilogramm. Der äußere Durchmesser des Schaftes betrug unten 7,5 Meter, oben 3,5 Meter; der Innendurchmesser unten 3,5 Meter und oben 3,0 Meter. Der oberste Teil des Schornsteins pendelte im Wind etwa sieben bis acht Zentimeter aus der Lotrechten. Durch den dauernden Westwind verursacht, geriet er allmählich in eine Schieflage; und 1935 etwa 25 Zentimeter aus dem Lot. Doch zuvor mußte sich der „Lange Emil“ eine Einkürzung gefallen lassen. Nach Angaben in der Zeitschrift „Die Schicht“ von 1954 besaß er nun noch eine Höhe von 127 m. Diese Einkürzung soll während des Ersten Weltkrieges auf Verlangen der Heeresleitung vorgenommen worden sein, weil der den feindlichen Fernkampfgeschützen ein anvisierbares Ziel bot.


Aus: Unterhaltungsblatt und Anzeiger für den Kreis Schleiden (1926)

Von 1910 bis 1926 stand der Riese kalt und ungenutzt. Er kündete nicht mehr von rastloser Betriebsamkeit. Die Bleihütte war außer Betrieb. Erst im Jahre 1926, als niemand mehr an die Wiederindienststellung des „Langen Emil“ glaubte, wurde die Magdalenenhütte wieder in Betrieb gebracht.

Den zweiten Weltkrieg überstand der Riese ohne Schaden. Das Erdbeben vom 14. März 1951 fügte ihm aber erhebliche Schaden zu. Unter dem obersten Essenkranz entstand ein großes Loch im Mauerwerk. Die Ziegelsteine fielen in das Innere des Schornsteins. Der starke Bleikranz am obersten Rand hatte gehalten und Schlimmeres verhütet. Doch mußten die oberen sieben Meter des Schornsteins abgetragen und vor der Indienstnahme wieder neu hergestellt werden. Nach der Reparatur blickte der „Lange Emil“ mit seinen 127 Meter wieder wie vorher in die Ferne.

Die Stillegung des Bergbaubetriebs in Mechernich am 31. Dezember 1957 leitete das Ende des „Langen Emil“ ein. Ende August 1961 wurde bekannt, daß er und der „Kurze Carl“ durch Sprengung niedergelegt werden sollten. Für viele Mechernicher, nicht nur für die ehemaligen Kumpels, war es schmerzlich zu wissen, daß der Riese in Zukunft als prägender Richtpunkt aus der Landschaft verschwinden sollte. Aber wer sollte und wollte die Folgekosten der Wartung des „Langen Emil“ tragen und dafür eintreten, ihn als Denkmal zu erhalten.

So kam denn, was kommen mußte. Am 24. Oktober 1961 erschien ein 25 Mann starker Pionierzug des Bundesgrenzschutzes, um die beiden Schornsteine zur Sprengung vorzubereiten. Um beide Schornsteine entstanden Gerüste, von denen Plattformen die Pioniere 1,50 Meter tiefe Löcher in die glasharten Ziegelsteine bohrten. Dies beschickten sie mit zwölf Kilogramm Trinitrotoluol (TNT). Sie sollten genügen, den „Langen Emil“ oberhalb des Sockels in die vom Sprengmeister bestimmte Fallrichtung, und zwar auf die 120 Meter langen Abgasschächte, niederzulegen. Der „Kurze Carl“ erhielt eine Ladung von 20 Kilogramm TNT, weil er mit dem Sockel niedergelegt werden wollte.


28. Oktober 2961: Gegen 17.20 Uhr sank der „Lange Emil“ in einer Staubwolke zusammen
Reproduktion: Kreisbildstelle


Der letzte Akt

Am Nachmittag des 27. Oktober 1961 sollte die Sprengung der Schornsteine stattfinden. Viele Schaulustige von nah und fern und ein stattliches Aufgebot an Vertretern der Presse wohnten dem Ereignis bei. Eine Starkstrom im Gefahrenbereich des Sprengortes wurde sicherheitshalber außer Betrieb gesetzt. Für die Zeit der Sprengung blieben Vussem, Lorbach und Bergheim ohne Strom. Nach den üblichen Hornsignalen zündete der Sprengmeister die Ladungen. Aber - außer einem Knall geschah nichts!

Die beiden Schornsteine standen zum Gaudium der Zuschauer unverändert an ihrem Ort. Der „Lange Emil“ stieß, wie zum Hohn, eine kleine Rauchwolke aus. Die Eifeler Volkszeitung vom 30. Oktober 1961 schrieb zu diesem mißlungenen Sprengversuch: „Das war kein Heldenstück, Oktavio“ (Schiller, Wallensteins Tod). Der Wind blies dann am späten Abend des 27. Oktober den vom Sprengstoff angeknacksten „Kurzen Carl“ einfach um. Herumfliegende Trümmer verletzten zwei Pioniere, die sich in der Nähe befanden.

Am Samstag, 28. Oktober 1961, fand dann des Dramas letzter Akt statt. Die Pioniere vom Bundesgrenzschutz wollten es nun wissen. Sie beschickten den „Langen Emil“ mit 110 Kilogramm TNT anstatt der zwölf Kilogramm vom Vortag. Nicht noch einmal sollte es Anlaß zu Spötteleien geben. Wiederum strömten Hunderte von Schaulustigen zum Bleiberg. Von den umliegenden Höhen wollten viele Menschen den „Langen Emil“, das Wahrzeichen der Gegend, in die Knie sinken sehen. Sie alle wurden auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Erst hieß es, die Sprengung würde um 12 Uhr erfolgen, dann sollte sie um 14 Uhr, um 14.30 Uhr, um 15 Uhr geschehen. Weil nämlich die verwendete Sprengstoffmenge über 100 Kilogramm TNT hinausging, war eine Genehmigung des Ministers erforderlich; und die war um 15 Uhr noch nicht eingetroffen. Endlich, gegen 17.20 Uhr, gab es den Knall, auf den die noch übriggebliebenen Zuschauer seit 12 Uhr warteten. Der „Lange Emil“ aber neigte sich nicht, wie es ihm eigentlich zur Ehre gereicht hätte. Nein, er wurde durch die 110 Kilogramm TNT pulverisiert und sank in einer Staubwolke zusammen. Das Zeichen einer einst blühenden Industrie fand auf diese Weise ein ruhmloses Ende.


Quellennachweis

Bonner Generalanzeiger vom 28. 5. 1927
Die Schicht, Heft II 1954
Deutsche Bauzeitung Berlin vom 10.10. Und 18.11.1885
Alois Jansen, Die wirtschaftliche Bedeutung des Mechernicher Bleibergbaus für den Nordeifeler Raum
Huppertz, Bergbau und Hüttenbetrieb des Mechernicher Bergwerks Aktien-Verein von 1886
Agitator, Sozialdemokratische Zeitung Nr. 30 vom 22.10.1870
Eifeler Volkszeitung Nr. 207 vom 6.9.1961 - Nr. 251 vom 27.10.1961 Nr. 253 vom 30.10.1961

Quelle: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1990

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