Ludwig der Deutsche und die morschen Balken des Königshofes
Wo brach der König durch die Decke: Flamersheim oder Kirchheim?

von Dr. Kurt-Peter Rhein

Als im Jahr 1977 die Pfarrkirche in Flamersheim abgerissen wurde, hofften heimatgeschichtliche Forscher, Reste eines karolingischen Königshofes zu finden. Sogar der seinerzeit an der Bonner Universität lehrende Professor Dr. Walter Janssen schaltete sich in die Untersuchung ein. Daß man indes - entgegen der Erwartung - nichts fand, nichts finden konnte, soll im folgenden kurz dargelegt werden.


Abriß der Flamersheimer Kirche

Der im 9. Jahrhundert nach Christi Geburt von den Normannen vollständig zerstörte Königshof (villa regia nomine Flameresheim) hat nämlich nicht, wie der Name vermuten lassen könnte, in Flamersheim, sondern auf dem Gebiet des heutigen Kirchheim gestanden. Die Namensgleichheit dieser pfalzartigen königlichen Hofanlage mit dem heutigen Dorf Flamersheim hat einige Heimatforscher bis in unserer Zeit dazu verleitet, den Hof in dem zwei Kilometer von Kirchheim entfernten Flamersheim zu lokalisieren. Es ist das Verdienst des Kirchheimer Pfarrers Everhard Decker (1893-1875I) nachgewiesen zu haben, daß der Königshof mit seinen Ländereien in der späteren Gemarkung Kirchheim gestanden hat. Im einzelnen sprachen dafür die nachfolgend aufgeführten Tatbestände.

In Kirchheim sind im vorigen Jahrhundert Fundamente einer römischen Villa gefunden worden, sie wurde durch eine Wasserleitung versorgt, die auch freigelegt wurde. Münzen aus römischer Zeit, die man in Kirchheim gefunden hat, werden übrigens im Landesmuseum in Bonn bewahrt. Ein weiteres signifikantes Relikt aus römischer Zeit ist ein Ende der siebziger Jahre geborgener Steinsarg. (Kürzlich stieß man erneut auf Reste einer römischen Wasserleitung.)

Im 4. Jahrhundert n. Chr. begannen die vordringenden germanischen Stämme im Zuge der Völkerwanderung, die Substanz des Römischen Reiches auszuhöhlen. Als zu Beginn des 5. Jahrhunderts Rom seine Truppen vom Rhein zur Abwehr des Westgotensturms abziehen mußte, gab es für die nach Westen einfallenden germanischen Franken kein Hindernis. Sie konnten das ungeschützte Gebiet an Mittel- und Niederrhein in Besitz nehmen. Dabei gingen die zivilisatorischen Werke und Einrichtungen der Römer zum Teil unter.

Die Gaukönige, unter denen die Franken zunächst lebten, nahmen ausgedehnte Ländereien in Besitz und legten den Grundstein zu ihrem Haus- und Krongut. (Die Landgüter des Königs wurden mit dem Begriff „fiscus“ benannt, und für die königlichen Gebäude wurde das „palatium“ der Römer übernommen.)

Als Karl der Große (768-814) die fränkische Universalmonarchie begründete, war er gezwungen, das im Reich überall verstreute königliche Besitztum fest in der Hand zu halten. So entstand die Organisation der Königshöfe, die als Verwaltungszentren fungierten. Dazu war für Lothringen ein eigener Statthalter als Cornes Palatii (Pfalzgraf) eingesetzt, der in Aachen residierte. Ihm oblagen verschiedene verwaltungsrechtliche Aufgaben, wie die Ernennung der höheren Beamten, die Pfalzgerichtsbarkeit und die Verwaltung des Krongutes.


Die Flur von Kirchheim

Ein solches Verwaltungszentrum war der zwischen den beiden Ortschaften Kirchheim und Hockenbroich gelegene Königshof villa regia nomine Flameresheim.

Wie bereits angedeutet, glaubte die heimatgeschichtliche Forschung bis zum vorigen Jahrhundert - und offensichtlich glauben es einige Forscher auch heute noch -, das palatium habe im heutigen Flamersheim gestanden. Da vom Hof heute nichts mehr zu sehen ist, war man auf Ausgrabungen und Kombinationen angewiesen. Die Beweisgründe, die nun für Kirchheim als Standort des fränkisch-karolingischen Königshofs sprechen, sind folgende:

  1. Die zwischen Kirchheim und Hockenbroich liegende Stelle trägt die Flurnamen „Am Weiler“, „Am Weilerpütz“, „Auf dem Wyler“ (villa). An diesen Fluren schließt sich in der „Honshecke“ die Flur „Hockebur“ an. Diese wurde irrtümlicherweise als „hohe Burg“ gedeutet. Nach neuesten etymologischen Untersuchungen ist „bur“ nicht mit „Burg“ identisch, sondern ist einfach ein Landhaus. Der Bestandteil „Hocke“ leitet sich von dem älteren niederdeutschen „hok“ (“hukil“, „hukal“) = „Höhe“ ab. Somit gelangt „Hockebur“ zu der Bedeutung „hochgelegenes Landhaus“. Für die Auswahl des Standortes des Köngishofes dürfte die etwas erhöhte Lage des Geländes bestimmend gewesen sein.

  2. Zu einer Hofanlage gehört nach Vorschrift eines capitulare des villis (Vorschriften Karls des Großen zur Errichtung von Höfen) ein Tiergarten (im Sinne eines Geheges von Nutztieren), der den Namen „brochlium“, später „Brohl“, „Brühl“ führte. Noch heute erinnert die Kirchheimer Feldflur „Auf dem Bröhl“ daran.

  3. Der Kirchheimer Junggesellenverein besitzt in der Nähe der ehemaligen villa regia ein Gärtchen, die „Honshecke“ genannt. Hier wird am Kirmestag das „Honshecker Protokoll“ verlesen, in dem in spaßhafter Weise von Tribut, den die umliegenden Gebiete abzuliefern haben, die Rede ist. Seine historische Grundlage findet dieser Brauch in der Zeit, als die zur Königshoforganisation Flamersheim gehörenden Filialhöfe ihre Naturalien abzuliefern hatten.

  4. Im heutigen Flamersheim ist eine römische Begräbnisstätte gefunden worden; demzufolge kann hier die römische Villa, auf deren Gebiet der fränkische Königshof errichtet worden ist, nicht gestanden haben. Die Römer pflegten ihre Toten nicht im Ort selbst zu bestatten, sondern außerhalb. Außerdem ist es unwahrscheinlich, daß die fränkischen Könige sich für ihre fiskalischen Hofanlagen römische Begräbnisstätten wählten.

  5. Als letzter Punkt wäre zu erwähnen der Hofkapellen (eine Hofkapelle gehört zum palatium Flameresheim) eigentümliche Zehnte, der bis zur Französischen Revolution der Kirchheimer Pfarrei zustand; und zwar erhielt der Pfarrer ihn in der gleichen Weise wie in caputulare des villis § 6 vorgeschrieben ist.


Die „Honshecke“

Wenn man die vorgenannten fünf Tatbestände als stichhaltig ansieht, kann man sich von dem ehemaligen Königshof Flameresheim in Anlehnung an die capitulare des vilis Karls des Großen etwa folgendes Bild machen:

Den Kern der Anlage bildete die curtis (= der herrschaftliche Teil), der die curticula (= der Wirtschaftshof) vorgelagert war. Vom Wirtschaftshof aus wurde das zugehörige Land bewirtschaftet. Zum höheren und niederen Personal gehörten neben den leitenden Beamten Förster, Kellner, Zöllner, Handwerker und das mit den eigentlichen landwirtschaftlichen und sonstigen Verrichtungen beschäftigte unfreie Gesinde. Sie alle bildeten eine Art familia. An der Spitze stand ein vom König ernannter Herrschaftsrichter (judex). Ihm oblag die Verantwortung für die Unterbeamten, und in seiner Hand lagen die Justizangelegenheiten. Um den Haupthof Flameresheim lagen Neben (Filial-)höfe. Sie hatten die Aufgabe, das vom Haupthof nicht mehr landwirtschaftlich erfaßte Gebiet selbst zu bewirtschaften.

Die Organisation des Krongutes war auf das Visitationsprogramm des Herrschers abgestellt, das mangels einer Zentralverwaltung die Könige bis ins hohe Mittelalter hinein durchzuführen gezwungen waren. Bei der offensichtlichen Vorliebe der nachweisbaren Köngishöfe ist die Vielzahl der nachweisbaren Königshöfe nicht verwunderlich. Jedes Krongut (fiscus) unterstand unmittelbar dem König. Die vorzugsweise von der Krone aufgesuchten und für eine Hofhaltung ausgestatteten Köngishöfe galten als Pfalzen. So ist unsere villa regia nomine Flameresheim ein Gut mit pfalzartigem Charakter gewesen, bei dem mit einem herrschaftlichen Haus und einer Hofkapelle gerechnet werden kann. Diese Gebäude waren aber nur bei den wichtigsten Höfen gemauert (z. B. bei der Pfalz Aachen, der Pfalz Ingelheim). Wir dürfen annehmen, daß sie im Falle unseres Hofes in Kirchheim noch Holzbauten waren. Als nämlich Ludwig der Deutsche im Jahre 870 im heutigen Kirchheim Aufenthalt nahm, brach das bereits morsche Holzwerk des solariums (vermutlich Holzgalerie) unter der Last der großen Menschenmenge zusammen, so daß Ludwig hinunterstürzte und zu Schaden kam.


In der Auflösung

Diese Begebenheit fällt in die Zeit, als das Karolingerreich bereits in der Auflösung begriffen war. Die drei Söhne Ludwigs des Frommen (er war der Nachfolger Karls des Großen) hatten das Reich im Vertrag von Verdun 843 unter sich aufgeteilt. So gabe es einen östlichen Teil unter Ludwig dem Deutschen, einen westlichen (frz.) unter Karl dem Kahlen und einen schmalen mittleren Teil mit der Kaiserwürde unter Lothar. Als Kaiser Lothar starb, bemühten sich Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche um das Erbe ihres Bruders. Eine Konferenz, die zur Klärung der Erbfrage einberufen worden war, wurde 870 in Meersen (siehe Vertrag von Meersen) abgehalten. Auf dem Weg dorthin machte Ludwig der Deutsche auf seinem Krongut villa regia nomine Flameresheim Station, wo ihm der oben erwähnte Unfall zustieß. Unser für diese Zeit maßgebliche Gewährsmann, Regino von Prüm 1, berichtet zum Jahre 870 dazu folgendes:

(In der Übersetzung): „Als Ludwig (der Deutsche) und Karl (der Kahle) mit ihren Optimaten und Vornehmsten nach Meersen kamen, teilten sie das einstige Reich Lothars zu gleichen Teilen unter sich auf. Wie aber diese Teilung vor sich gegangen ist, hatten wir zu bemerken für müßig, weil es allen bekannt ist. Karl hielt sich mit der gesamten Versammlung bei Herstal auf, weil ihm dieses palatium in dem Teil zugefallen war, Ludwig aber, durch seinen schlechten Gesundheitszustand benachteiligt, kehrte zum palatium in Aquä zurück, wo er fast zwei Monate das Bett hütete. Als schließlich Ludwig, von den östlichen Landen kommend, das Gebiet der Ribuarier betreten hatte, nahm er Herberge auf dem königlichen Gute Flameresheim, und als er dort, von einer großen Anzahl Begleiter umgeben, das solarium des Hauses bestieg, brachen plötzlich die Balken, die wegen des hohen Alters durch Fäulnis morsch geworden waren. Das solarium stürzte zusammen, und unter seinen Trümmern wurde der König stark zerquetscht, so daß sich zwei Rippen aus ihrem Verbande lösten.“

Schon 843, also etwa 30 Jahre nach dem tode Karls des Großen, hatte sich eine Gefahr für das Reich angekündigt: Die Normannen, die lediglich am Beutemachen interessiert waren. Zunächst operierten sie im Küstenbereich, dehnten dann aber in der Folgezeit ihren Aktionsradius auf das Hinterland aus. Auch unser hiesiges Gebiet wurde davon nicht verschont. So berichtet der bereits erwähnte Regino von Prüm in seiner Chronik zum Jahre 881 von der Zerstörung der Orte Köln, Bonn, Neuss, Jülich, Zülpich, Aachen, der Klöster Kornelimünster, Malmedy und Stablo. In Zusammenhang mit dieser Aktion oder in einem neuen Stoß erfolgte die Plünderung des Klosters Prüm. In das heutige Euskirchener Kreisgebiet drangen die Normannen 881 und 892 ein. Die südliche Grenze, bis zu der sie in unsere Gegend vorgedrungen sind, dürfte sich über die Linie Rheinbach - Kirchheim - Billig - Zülpich gezogen haben. Es ist verständlich, daß die Normannen das wichtige Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum, den Königshof Flameresheim, nicht verschont haben, zumal ihre Unternehmen unter genauer Kenntnis der geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten durchgeführt wurden.

Nach dem Untergang des Königshofes, der nicht mehr aufgebaut wurde, verließen die Hofbewohner die Trümmerstätte, um in die östlich gelegene fruchtbare Niederung zu ziehen; die neu gegründete Ortschaft wurde in Anlehnung an die frühere „Flamersheim“ genannt. Dies ist die Geburtsstunde des heute im Kreise Euskirchen liegenden Dorfes Flamersheim. Im alten Flameresheim (Hockebur, Wyler, Honshecke) blieben einige wenige Leute wohnen und hielten die Erinnerung an früher wach durch den Namen ihrer Pfarrei: Hockebur. So heißt es im Memorienbuche des Stiftes „Maria ad Gradus“ aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch: „Vlamersheim et Hockebure solvent ...“ 2 Letztere Bezeichnung ist erst Ende des 13. Jahrhunderts durch den Namen Kirchheim abgelöst worden. Zu dieser Pfarre Hockebur gehörte 1. der aus dem Gutshofe entstandene Ort Hockebur, 2. das „Dorf“; das ist der mit dem Namen „Kirchheim“ bezeichnete Ortsteil, und 3. das nordöstlich gelegene Oberkastenholz. Der Ort Hockebur dehnte sich allmählich in dem nach Süden zu sich senkenden Gelände aus, das noch heute den Flurnamen „Im Broich“ trägt. In Übereinstimmung mit dem Geländecharakter wurde der später nicht mehr verstandene Bestandteil „-bur“ durch „-broich“ ersetzt, so daß es zu dem heutigen Ortsnamen Hockenbroich kam. Wie schon erwähnt, begründete nach Auslöschung des Königshofes die zurückgebliebene Bevölkerung die Pfarrei Hockebur, ein anderer Teil ließ sich in der Nähe der wiedererstellten Hofkapelle nieder. Dies schnell wachsende Ansiedlung gab sich den Namen Kirchheim, „Heim bei der Kirche“. Seit dieser zeit der Umbenennung (ende 13. Jh.) spricht man offiziell von einer Pfarre Kirchheim.


Die Grenzen des Karolingischen Mittelreiches nach den Verträgen von Verdun und Meersen

Die alte Pfalzkapelle ist also, wie gesagt, von den wenigen zurückgebliebenen Bewohnern zum Zwecke ihrer religiösen Betätigung wieder aufgebaut worden. Sie stand unter dem Patrozinium des hl. Martin. In der Benennung der katholischen Kirchen ist eine gewisse Entwicklungsfolge festzustellen. So waren in älterer Zeit die Stätten der Gottesverehrung Salvator- (Erlöser-L), Apostel-, Petrus- und Michaelskirchen und –kapellen. In fränkischer Zeit erschienen dann die Heiligen Hubert, Lambert, Martin (Nationalheiliger der Franken) und andere fränkische Heilige. Besonders entstanden Martinskirchen auf dem Boden fränkischer Königsgüter, so wie bei dem ehemaligen Flamersheimer Hofe. Hierdurch erklärt sich die große Zahl der Martinskirchen um Kirchheim.

Durch die Vernichtung des Königshofes hatte der Ort seine vormals bedeutende Rolle als Verwaltungs-- und Wirtschaftszentrum eingebüßt. Da durch die Normannen die gesamte Verwaltungsorganisation aus den Fugen geraten war und der eigentliche pfalzgräfliche Amtssitz, die Pfalz Aachen, weitgehend zerstört war, wanderte der Pfalzgraf ab, und zwar verlegte er seinen Sitz an einen entsprechend sicheren Ort, die Feste Tomburg (bei Rheinbach). In der Folgezeit gehörte Kirchheim ununterbrochen zur Herrschaft und zum späteren Amt Tomburg. Hier war der Sitz der Verwaltung und des Gerichts. Rechtsstühle der unteren Rechtspflege bestanden in Odendorf und im neuen Flamersheim. Die Marktgerechtigkeit ging ebenfalls in das neue Flamersheim über. Als im Jahre 1060 das neue Flamersheim aus dem Pfarrverband von Kirchheim gelöst und selbständige Pfarrei wurde, mußte der Pfarrer von Kirchheim auf den Zehnten dieser Feldflur verzichten. Als Ersatz bekam er 54 Morgen Herrenland.

Die Bewohner Kirchheims haben eine gefühlsmäßige Ahnung von der bedeutenden Rolle, die ihr Heimatdorf vor 1.000 Jahren und mehr Jahren gespielt hat. So ist es bei den Leuten Allgemeingut zu glauben, auf dem Boden der Honshecke habe eine mächtige Burg gestanden. Abgesehen davon, daß bei merowingisch-karolingischen Königshöfen von Burgen keine Rede sein kann, ist es unrichtig anzunehmen, die zahlreichen Gebäude des ehemaligen fiskalischen Gutes Flameresheim hätten nur die kleine Fläche der Honshecke eingenommen.

Anmerkungen

1 Regino von Prüm: Reginonis Abbatis Prumiensis Chronicon, Hannoverae 1890, S. 100
2 Th. Lamcomblet: Archiv f. d. Gesch. d. Niederrheins II, Heft 1, 1832, S. 49

Quelle: Kreis Euskirchen Jahrbuch 1987

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