Ein außergewöhnliches Gefährt

Von Josef Pick


Als jüngster Sprößling einer Bauernfamilie inmitten der Tierwelt eines Bauernhofes aufzuwachsen, bringt ohne Zweifel Erlebnisse mit sich, die in zeitlebens bleibende Erinnerungen übergehen. Ich hatte dieses Glück und zehre heute noch von diesen Erinnerungen. Sie bewegen mich, wenn auch verspätet, auf eine Begebenheit zurückzukommen, die sich Ende der dreißiger Jahre - irgendwann im Herbst - in Frauenberg zugetragen hat.

Meine angeborene Tierliebe trug dazu bei, die Haustiere unseres Bauernhofes um ein Schaf, das ich als Lämmchen vom Schäfer einer Wanderherde mit meinen damals gesamten Ersparnissen gekauft hatte, zu bereichern. Das Lämmchen erhielt den Namen Hansi, wurde von mir gehegt und gepflegt und wuchs mit der Zeit zu einem stattlichen Tier heran.

Hansi wurde mir ein echter Freund, begleitete mich fast überall hin und war auf meinen Zuruf immer zur Stelle. Ich hatte ihm mit der Zeit beigebracht, über den Bach zu springen, Kinder zu stoßen, die ich nicht leiden konnte, und sogar auf meine Großmutter loszugehen, wenn sie mal wieder zu viel an meinem Treiben mit dem - wie sie sagte - „dummen Schaf“ herumgenörgelt hatte. Großmutter stand Hansi nicht mehr so wohlwollend gegenüber, seitdem er auf mein Betreiben in ihrer Abwesenheit den frisch verlesenen Kopfsalat aus dem Waschsieb gefressen und dabei noch seine „Requisiten“ in der Küche hinterlassen hatte.

Doch Hansi war keinesweg ein dummes Schaf. Dank seiner Gelehrsamkeit und dem handwerklichen Können meines älteren Bruders konnte meine Idee, für Hansi einen Wagen zu basteln und ihn als Zugtier einzuspannen, bald verwirklicht werden. Aus alten Handwagenrädern, Schalbrettern usw. entstand ein ansehnliches Fahrzeug mit vier Rädern und einer beweglichen Wagenschere. Und als mein Bruder auch noch ein Zuggeschirr aus Resten von Gurten und Lederriemen gefertigt und zwei Ketten am Wagen befestigt hatte, war das Gefährt einsatzbereit.

Hansi wurde eingespannt, zögerte anfangs loszugehen, war aber bald ein gelehriges „Zugpferd“ geworden und verstand sogar die hierzulande für die damaligen Ackerpferde geläufigen Zurufe wie „haah“, „hott“, „hüüh“ und „jö“. Von nun an war ich fast jeden Tag mit diesem Gefährt unterwegs, holte von den Bachwiesen das für Hansi bestimmte Futter sowie Obst und Gemüse aus unserem am Bach gelegenen Garten.

Zur damaligen Zeit war es üblich, am Erntedankfest im Oktober mit blumen- und girlandengeschmückten Pferdewagen durchs Dorf zu ziehen, wobei anschließend die schönsten Wagen mit einem Preis bedacht wurden. Auch dieses Mal war man wieder dabei, in den Höfen die Wagen für den Umzug vorzubereiten. Ich blieb nicht untätig, schmückte ebenfalls meinen Wagen mit Herbstblumen, lud verschiedene Feldfrüchte, Obst und Gemüse auf und gab dem Gefährt mit zusammengesuchten Farbresten noch einen bunten Anstrich. Und nachdem ich schließlich das Zuggeschirr mit bunten Papierrosen besteckt hatte, war auch mein Gefährt am Tage des Umzuges startklar.

Als die bunten Pferdewagen an unserem Haus vorbeizogen, reihte ich mich mit meinem Mini-Gefährt in den Umzug ein. Anfangs hatte man mich zwischen den großen Wagen kaum bemerkt; aber es dauerte nicht lange, bis mir aus den Reihen der Zuschauer Beifall gespendet wurde. Der Umzug führte durch das ganze Dorf und den zum Kirchspiel gehörenden naheliegenden Nachbarort. Es war erstaunlich, wie leicht Hansi diese über einige Stunden dauernde Fahrt durchhielt. Unterwegs gesellte sich mein Dorfschullehrer zu mir, sprach von einer guten Idee, die ich da gehabt hätte, begleitete mich fortan und schmunzelte über den Beifall, der mir und meinem außergewöhnlichen Gefährt auch weiterhin gespendet wurde. Als ich nach beendetem Umzug vom Ortsbürgermeister noch einen Preis in Form einer großen Tafel Schokolade erhielt, zog ich stolz und freudestrahlend nach Hause. Selbst mein Vater war stolz auf mich, dachte nicht nicht mehr an die Bubenstreiche meiner Vergangenheit und meinte, aus mir könnte vielleicht doch noch ein brauchbarer Mensch werden.

Da es mir damals an guten und weniger guten Einfällen nie fehlte, muß wohl das Erfolgserlebnis beim Erntedankfest mich auf die Idee gebracht haben, tags darauf in den noch beladenen und geschmückten Wagen unseren Schäferhund Rolf einzuspannen. Rolf war ein gutmütiges und kinderliebes Tier, ließ sich willig einspannen, wagte aber in dem für ihn ungewohnten Geschirr keinen Schritt zu gehen und reagierte auch nicht auf meinen energischen Zuruf „Los!“ Dann setzte ich mich - entgegen meinen bisherigen Gewohnheit - auf den Wagen, unterstrich das zweite „Los!“ mit einem leichten Schlag des Halfterriemens, und es ging wirklich los!


Spuren hinterlassen

Durch das Fahrgeräusch sichtlich erschreckt, machte Rolf einen unerwartet großen Sprung nach vorne, wobei der Wagen sich mit dem Vorderteil vom Boden abhob und mit mir die halbe Wagenladung zu Boden purzelte. In donnernder Fahrt ging es den Hof hinunter auf das geöffnete kleine Hoftor zu, und bums ...! - mit einem lauten Knall blieb der Wagen mit dem linken Hinterrad im Tor hängen. Dabei riß das Vorderteil am Scherendrehpunkt ab, und Rolf machte sich mit einem Teil des Kastens und den beiden Vorderrädern auf und davon. Durch das Spektakel aufmerksam geworden, kam mein Vater hinzugelaufen, „Wat wor dat dann? Wat wor dat für 'ne Knall? Dat wor jo de Hongk!“ sagte er. (Das war ja der Hund!) Ich sprang über das hängengebliebene Wagenteil und rannte dem weit vorauseilenden Gefährt nach. Mit gesteigerter Geschwindigkeit raste Rolf die Dorfstraße hinunter. Die sonst so übliche Idylle der Dorfstraße - Autos waren damals noch eine Seltenheit - wurde plötzlich erheblich gestört, und das Gefährt hatte seine Spuren hinterlassen: Hühner flogen aufgescheucht über die Dächer davon. Ein Kind hatte sich in letzter Sekunde vor dem herannahenden Fahrzeug unter Zurücklassen seines Puppenwagens in die Gosse retten können. Der von einem Wagenrad erfaßte Puppenwagen war durch die Luft geflogen und radoben vor der Ladentür des Bäckers gelandet; die Puppe wurde erst Tage danach im Kartoffelacker eines nahegelegenen Gartens wiedergefunden. Trina, eine als Dorforiginal bekannte Kleintierhalterin, auf abgeernteten Äckern und an Wegrändern stets auf Futtersuche anzutreffen, pflegte das gesammelte Gut zu einer Bürde, stürzte und setzte sich dabei auf den Hintern. Sie jammerte um ihre aufgeplatzte und verstreute Ladung, stieß eine Menge Verwünschungen auf mein Gefährt aus, bis schließlich ein von Mitleid gerührter Tagelöhner vorbeikam und ihr wieder auf die krummen Beine half.

Rolf war mittlerweile am Dorfende angelangt, mußte vor einem entgegenkommenden Ochsenkarren ausscheren, geriet von der Straße ab und stürzte kopfüber mit dem Wagentorso in den zwischen Straße und Friedhof verlaufenden tiefen Morastgraben.

Der damalige Totengräber, ebenfalls ein Dorforiginal, mußte den Vorfall wohl bemerkt haben, denn er hatte seine Friedhofsarbeit unterbrochen und war schon an der „Unfallstelle“, als ich wenig später dort ankam. Er half mir, das zu Tode erschrockene und erschöpfte Tier mit Hilfe einer Stange und eines Seiles aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Während dieser Bergung, zu der ich wohl oder übel zum Lösen der Wagenketten in den morastigen Graben hinabsteigen mußte, hörte ich den Totengräber kopfschüttelnd fragen: „Wie kütt dä Hongk he en dä Jrave? Dä sieht jo us wie de Düvel!“ (Wie kommt der Hund hier in den Graben? Der sieht ja aus wie der Teufel!) Und als wir anschließend mit vereinten Kräften auch das versunkene Wagenteil herausgezogen hatten, muß der Totengräber wohl einen Zusammenhang erkannt haben, denn er fragte mich: „Häs du dat gemaht? Dir es jo alles zozetraue!“ (Hast Du das gemacht? Dir ist ja alles zuzutrauen!) Die Antwort und eine Erklärung hierzu bin ich ihm schuldig geblieben. Ich zog es vor, dieses Mal ohne Wagen, aber schwarz mit Morast bedeckt und stinkend wie wir beide waren, schleppend den Heimweg anzutreten.


Ein Schimpfkanonade

Unterwegs begegnete uns noch der Dorfpfarrer. Auf seine neugierige Frage: „Na, Josef, was ist denn mit euch geschehen?“ fiel mir keine bessere Antwort ein, als zu sagen: „Ich habe mit Rolf einen Ausflug gemacht.“

Zu Hause angekommen, empfing mich mein Vater mit einer wahren Schimpfkanonade; sein Lob auf mich vom Vortage war gänzlich verflogen. „Wie kanns du nu dä Hongk enspanne? Ne Hongk es doch ke Schoof!“ (Wie kannst Du nur den Hund einspannen? Ein Hund ist doch kein Schaf!“) sagte er. „Bei dir es Hopfen un Malz verloore!“, ging es weiter. „Mach bloß dat dä Dreck vom Hongk kütt, und du küss me net en et Huus, befür deng Plagge net mieh stenke!“ (Mach bloß, daß der Dreck von dem Hund kommt, und du kommst mir nicht ins Haus, bevor deine Kleider nicht mehr stinken!) Meine Mutter half - wie in ähnlichen Lagen - bei der Reinigung. Nicht nur ich, sondern auch Rolf mußte sich in der Scheune der Dusche mit dem Wasserschlauch unterziehen, wobei wir beide wegen des kalten Wassers vor Kälte zitterten.

Die Fahrt mit dem ungewöhnlichen Gefährt war noch einige Tage danach Dorfgespräch. Den Versuch, Rolf nochmals einzuspannen, habe ich natürlich nicht mehr gewagt.

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