Euskirchens Tuchmacher und ihre Arbeiter


Von Heinz Küpper



II. Der Wendepunkt zur neuen Entwicklung

Mit dem Einzug der Revolutionstruppen ins Rheinland im Herbst 1794 begann die 20 Jahre dauernde Franzosenzeit. Sie löste alle alten Zunftbindungen auf und beseitigte überhaupt alle äußeren und inneren Hemmnisse, die einem freien Wirtschaften noch abträglich gewesen waren. Renelt bemerkt dazu: „Jeder durfte nun auf dem Lande für billigen Lohn spinnen lassen und seine Ware absetzen, wo er es konnte, durfte sich Gehilfen und Lehrlinge halten, soviel er wollte.“ (S. 9). Beutin bemerkt jedoch zum gleichen Zeitpunkt: „Aber die Arbeitsverhältnisse, die Nachfrage, die Produktionsweise blieben ja trotz aller Verordnungen vorerst die gleichen wie seit alters her. Den Markt bildet die nähere Umgebung.“ (S. 287). Man muß den Ton sehr auf „vorerst“ legen. Die Gesinnung der Bevölkerung blieb auf jeden Fall die gleiche, die die neue Lage zu bewältigen hatte. In Münstereifel, wo Zunftwesen und merkantile Formen lange nebeneinander floriert hatten, ging es von jener Zeit an mit dem Tuchmachergewerbe bergab, es hat sich nur noch wenige Jahre halten können (Renelt S. 5). In Euskirchen dagegen schritt man vom kritischen Wendepunkt in die entgegengesetzte Richtung, „ging mit der Zeit“.

Wir besitzen darüber ein sehr sprechendes und eindeutiges Zeugnis, das anscheinend bisher nicht beachtet worden ist. In seinem Jahresbericht vom 1.8.1827 schreibt Bürgermeister Boener: „Die Bewohner Euskirchens haben seit dem Jahre 1800 angefangen, sich auf den Handel und die Tuchfabrikation zu verlegen.“ (Stadtarch. A. 138). Ferner seien Deckenmacher aus dem Bergischen Land wegen der Rheinsperre nach Euskirchen zugezogen. Boener fährt dann fort: „Die Kriegsjahre bis 1816 einschließlich verursachten natürlicher Weise eine außerordentliche Consumption, besonders der gemeinen Tücher zur Bekleidung der Armeen und der Decken zum Behuf der Spitäler. Dies hatte zur Folge, daß diejenigen, die sonst nur den Ackerbau als die einzige mögliche Nahrungsquelle angesehen hatten, ihre Kinder bei die wenigen Tuchmacher in die Lehre thaten, und daß die Webstühle vom Jahre 1806 bis jetzt wenigstens um 70 Stück sich vermehrt haben.“

Für diese Anfänge der eigentlichen Geschichte der Euskirchener Tuchindustrie hebt Renelt an Einzelpersönlichkeiten namentlich hervor: Die Gebrüder Johann und Richard Schiffmann, Die Gebrüder Arnold und Mathias Weber und Peter Cornelius Ruhr (S. 11). Der letztere stammte aus Euskirchen unmittelbar, die anderen vier aus benachbarten Dörfern. Sie alle können nach Alter und Herkunft mit der alten aufgelösten Zunft nicht mehr viel zu tun gehabt haben. Aber auch sie waren zunächst noch Handwerksmeister nach den angeführten Charakteristiken, die erst recht auf die übrigen Tuchmacher der Zeit zutreffen. Zur vollen Wirksamkeit gelangten die führenden Köpfe erst in der preußischen Zeit, also seit 1815/16, von da an entfaltet sich das Euskirchener Tuchmachergewerbe zur Industrie, wovon auch eine hübsche, in der Stadt noch bekannte Anekdote zeugt, die diesen Beginn aus den Kriegswirren heraus beschreibt.

Es wird erzählt, im Winter 1815 auf 1816 habe ein Kosakenregiment, also eine russische Truppe, die wahrscheinlich aus Frankreich zurückgekehrt war, in Euskirchen in Quartier gelegen, woher es heute noch in der Stadt einige Familien mit ausgesprochenen kaukasischen Gesichtszügen gibt. Damals habe nun der „Tuchfabrikant“ Johann Schiffmann, um nicht auch kaukasisches Blut in seine Familie zu bekommen, seine beiden jungen und hübschen Töchter auf dem Speicher seines Hauses vorsorglich eingemauert. Zugleich aber habe er an diese Krieger irgendwo aus der Tartarei seinen ganzen großen Tuchvorrat gegen klingendes Geld abstoßen können, so daß seine Frau, wenn sie den vermauerten Jungfern das Essen auf den Speicher brachte, abends stets mit einer Schürze voll Talern hinaufgestiegen sei, die dann durch ein Loch zu den Mädchen hineingeschüttet worden seien. So bewahrte und vermehrte unser Tuchmacher seine Schätze und konnte sie, als die Russen abgezogen waren, glücklich ans Tageslicht bringen wie ein biblischer Hausvater. Aus diesen Schätzen aber ist die Euskirchener Industrie aufgeblüht; die Taler brachten dem Fabrikanten Wohlstand, und die Töchter trugen den Wohlstand bald auch anderen jungen Tuchmachern als Mitgift zu, und alle konnten damit ihre „Etablissements“ erweitern. So endigt die Erzählung konkret im 19. Jahrhundert.

Stufenweise waren seit der aufgeklärten, merkantilen Politik der letzten Jülicher Herzöge, über die in manchen Dingen vorzügliche Franzosenherrschaft bis zur nun einsetzenden straffen preußischen Verwaltung die allgemeinen Zustände für den wirtschaftlichen Aufschwung günstig gestaltet worden. Aber diesem Aufschwung lag in Euskirchen keine veränderte Bevölkerungsmentalität zugrunde, die hatte, ebenso wie die Struktur, sehr stark beharrt und beharrte noch weiter.


III. Von der „Ackerstadt“ zum „Fabrikschlot“

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Entnommen: Heimatkalender für den Kreis Euskirchen 1955


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