Einschienenbahn-Projekt in Jena


Von Konrad Spath, Jena



Seit dem Druck der Jubiläums-Festschrift "100 Jahre Straßenbahn in Jena – Eine Geschichte mit Zukunft" im vergangenen Jahr sind bemerkenswerte Zeichnungen, Bilder und Schriftstücke aufgetaucht, die neue Erkenntnisse zum Projekt einer Einschienenbahn (ESB) in Jena gebracht haben.

Vorerst kurz einige Darlegungen zur ESB allgemein: Die Idee, nur eine Schiene für den Transport von Gütern und Personen zu benutzen, entstand mit der Entwicklung der ersten konventionellen Eisenbahnen in Europa, also in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1872 errichtete man anlässlich der Weltausstellung in Lyon die erste Einschienenbahn für den Personentransport. Es handelte sich um eine kreisförmige aufgeständerte Ausstellungsbahn, auf der ein sattelförmiger Wagen von einer stationären Dampfmaschine über Seile bewegt wurde.

Weitere Ideen und Entwicklungen sind aus Frankreich, den USA, Deutschland, Italien, Russland, Belgien und Kanada bekannt.

Die wohl bekannteste ESB stellt die nach dem Prinzip einer Einschienen-Hängebahn von Eugen Langen erbaute Wuppertaler Schwebebahn dar, die auf einer ersten Teilstrecke am 18. Oktober 1900 eröffnet wurde und bis heute mit bemerkenswerter Zuverlässigkeit ihren Dienst versieht. Die Schwebebahn in Dresden-Loschwitz, am 6. Mai 1901 in Betrieb gegangen, arbeitet nach dem gleichen Prinzip eines einseitig an einer Trag- und Fahrschiene "hängenden" Fahrzeuges.

Eine andere Form der ESB ist die sogenannte Sattelbahn oder ALWEG-Bahn, benannt nach dem Schwedischen Industriellen Axel Werner Gren. Umfangreiche Tests und Erprobungen erfolgten ab 1957 auf einer Versuchsanlage in Köln-Fühlingen und die erfolgreiche Anwendung in den USA, in Italien, Japan und weiteren Ländern.


Ehemalige ALWEG-Versuchsanlage in Köln-Fühlingen


Einschienenbahn Tokio, Inbetriebnahme 1964


Tokio, die 13 km lange Stecke führt zum Flughafen

Wie kam es nun überhaupt zu dem Projekt einer ESB in Jena?

In der Mitte der 60er Jahre wurde es immer schwerer, mit den vorhandenen Straßenbahn- und Buslinien den wachsenden Nahverkehr mit einem ausgeprägten Berufsverkehr in den Spitzenzeiten zu bewältigen. Die Straßenbahn-Bahnhofslinie musste am 15. Mai 1963 wegen gravierender Oberbaumängel eingestellt werden. Sie wurde durch die Buslinie 15 ersetzt. Die Strecke nach Norden befand sich im abschnittsweisen zweigleisigen Ausbau, der durch den Bezug in den Wohngebieten Nord I und II dringend erforderlich geworden war. Im Süden Jenas entstanden die Neubaugebiete Lobeda-West, später -Ost und dann Winzerla. Das Heizkraftwerk nahm Gestalt an, der Bau der Schnellstraße zwischen der Stadtmitte und der Autobahn-Anschluss-Stelle Lobeda begann.

Am 16. Juni 1967 fuhr die Bahn das letzte Mal zwischen Winzerla und Alt-Lobeda. Trotz der in einem Gutachten empfohlenen Einstellung des gesamten Straßenbahnbetriebes war jedoch allen Verantwortlichen sowohl beim Rat der Stadt Jena als auch im Verkehrsbetrieb klar, dass dringend die zukünftige Entwicklung des Nahverkehrs untersucht werden musste.

1968 hatte der Ministerrat der DDR "richtungsweisende" Beschlüsse gefasst über die Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena als Zentrum des wissenschaftlichen Gerätebaus in der DDR und darüber hinaus im RGW, dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe, der Ostblock-Staaten. Die Industrie-Ansiedlungen und die neuen Wohngebiete im Süden der Stadt sollten mit einem modernen und leistungsfähigen Verkehrsmittel erschlossen werden.

Und so wurde in einem zentralen Arbeitskreis unter Beteiligung von Spezialisten eine umfangreiche "Grundsatzstudie über die Möglichkeit der Anlage einer Einschienenbahn für die Stadt Jena" erarbeitet.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Es waren nicht die Hirngespinste von abgehobenen Funktionären oder weltfremden Forschern. Aus allen Dokumenten spricht eine wissenschaftliche Herangehensweise, technisch fundiertes Wissen, objektive Beurteilung und teilweise auch eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten der damaligen DDR.

Nach einer ausführlichen Darlegung der internationalen Entwicklung, der Begründung der Wahl des ALWEG-Systems beschreiben die Verfasser detailliert die Bahnanlagen, d. h. Balkenfahrweg, Weichen, elektrische und Signalanlagen, Zugangsstellen, Betriebshof und Fahrzeuge sowie Stromversorgung.

Die Konzeption sah vor, alle Verkehrs-Schwerpunkte mit der ESB zu erreichen, wobei die Strecke in mehreren Varianten von Lobeda-Ost nach -West, weiter über den Bahnhof Göschwitz, die Grenzstraße zwischen Winzerla und Burgau, Ringwiese, Beutenberg, Tatzendpromenade,

Otto-Schott-Straße, Westbahnhof, Haltepunkt Paradies, Zentrum, Munketal, Schützenhofstraße, Dornburger Straße nach Löbstedt bis zum damaligen Milchhof (heute Kaufland) führen sollte.

Es wurden umfangreiche Lagepläne und verschiedene Strecken-Varianten dargestellt, unter anderem auch direkt

am Saalbahnhof vorbei und dann die Dornburger und Naumburger Straße entlang. Die erreichbaren Geschwindigkeiten wurden ermittelt, die Fahrdynamik mit Fahrzeit-Diagrammen,Brems- und Beschleunigungs-Kennlinien und ein Fahrplan berechnet. Die Linienführung ist mit vielen Details in den alten Dokumenten beschrieben. Das betraf die Neubaugebiete, wo eine ESB verhältnismäßig leicht in die zukünftige Bebauung einzuordnen war. Sensible Bereiche waren das alte Südviertel und das Stadtzentrum, das Damenviertel, die Nordschule mit dem angrenzenden Nordfriedhof und die Bebauung am Munketal.

Auch an einen Betriebshof in Lobeda-Ost oder in Löbstedt mit den erforderlichen Abstell- und Werkstattkapazitäten wurde gedacht.


Stadtplan mit einer Variante der Linienführung



Während der Bearbeitung, die sich über 2 Jahre erstreckte, haben umfangreiche Varianten-Untersuchungen stattgefunden. Die Realisierung sollte 1975 beginnen.

Die Investitionskosten wurden auf vorerst 165 bis 175 Millionen Mark geschätzt, wobei eindeutig auf die erforderlichen Lizenzgebühren und die Beschaffung der 30 bzw. 28 erforderlichen Doppel-Triebwagen aus dem "nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" hingewiesen wurde.

Der Bauzeiten-Plan von zweieinhalb Jahren erscheint aus heutiger Sicht ziemlich optimistisch. Das für beide Hauptvarianten beschriebene Bus-Ergänzungsnetz sollte mit 37 Bussen 6 Linien umfassen.

Die Kostenvergleiche zur Straßenbahn/Bus-Variante vom 30.8.1968 führt zu der Aussage, dass die ESB zwar 84,3 Mill. Mark teurer sei als diese, sich aber auf Grund der Betriebskosten-Differenz nach 14 Jahren amortisiert habe.

Die Grundsatzstudie war etwa im April 1969 fertiggestellt. Die Lösung der Transportprobleme und die Neuordnung des ÖPNV wäre mit dem Betrieb eines derartigen unkonventionellen Verkehrssystems grundsätzlich möglich gewesen. Die Arbeit der einbezogenen Fach-leute ist hoch zu bewerten. Die Realisierung allerdings stand in den Sternen – wie sollte es weitergehen?

Erhebliche Eingriffe in das Stadtbild, umfangreiche Anpassungs-Maßnahmen und die Einbeziehung weiterer Fachministerien wurden erforderlich. Und schließlich dauerte die Erarbeitung einer Vorlage des Ministers für Verkehrswesen für das Präsidium des Ministerrates bis Anfang 1971. Allein aus der Liste der Beteiligten geht hervor, dass sechs Ministerien und die staatliche Plankommission der DDR beteiligt waren.

Aber die Vorlage wurde immer wieder abgeändert und ging in der letzten Variante von 135.000 Einwohnern im Jena des Jahres 1985 aus und von 24 000 Beförderungsfällen in der Spitzenstunde im Berufsverkehr. Außerdem wurden nochmals Varianten untersucht, wie der Berufsverkehr von Neu-Lobeda und dem Nordgebiet bewältigt werden könnte:


Einschienenbahn am Bahnhof Göschwitz

  1. die Variante einer Eisenbahn-Erschließung Neulobedas mit einer Tunnelstrecke vom Bahnhof Göschwitz aus und S-Bahn-ähnlichem Verkehr zum Saalbahnhof und zum Westbahnhof

  2. eine Straßenbahn-/Busvariante, die Neu-baustrecken nach Lobeda-West und Nord II sowie nach dem Zeiss-Bau 6/70 vorsahen, aber mit innerstädtischen Tunnel- und einigen Hochstreckenabschnitten der Straßenbahn sehr teuer wurde

  3. einen reinen Busverkehr, der auch möglich gewesen wäre und für den bis 1975 insgesamt 110 Busse nötig gewesen wären.

Die Schlussfolgerung nach langen Ausführungen und Vergleichen mit Varianten hieß: die Kombination Straßenbahn/Bus bringt eine Verbesserung des ÖPNV, reicht aber nicht aus, um ab 1980 das Verkehrsaufkommen qualitätsgerecht bewältigen zu können.

Zum Vergleich: Im Jahre 1980 beförderte der Jenaer Verkehrsbetrieb 19.895.000 Personen mit der Straßenbahn und 27.105.000 mit den Bussen, also zusammen 47 Millionen!

Die abschließende Studie und die sogenannte Vorlage beinhaltete nochmals ausführlich die Beschreibung der Technik der ESB und den wichtigen Hinweis, dass die systembedingten Anlagen, das waren im wesentlichen Fahrbahnbalken, Stützen und das Fahrzeugsystem, patentgeschützt sind und einer Lizenz bedürfen. Und: "..die entsprechenden Spezialreifen stellt nur die französische Reifenfirma Micheline her.."!

Ein äußerst wichtiger Faktor war, dass die Investitionskosten durch detailliertere Planungen und genauere Kostenabschätzung auf 285 Mill. Mark angestiegen waren, der Baubeginn sollte nun 1976 sein.

Inzwischen hatte allerdings die Sowjetunion von einer Beteiligung am Groß-Forschungszentrum Abstand genommen, der Jenaer Turm wurde niemals von Zeiss genutzt. Mit der Ablösung W. Ulbrichts durch E. Honecker im Mai 1971 wurden neue Richt- und Leitlinien eingeführt, neben vielem Anderen die "Störfreimachung vom Westen".

Noch bevor die wissenschaftlich-technische Konzeption im Oktober 1971 vorgelegt werden sollte, ging am 18.8.1971 beim damaligen Oberbürgermeister ein Brief aus Berlin ein. Der Stellvertreter des Ministers für Verkehrswesen gab bekannt, dass ein Einschienenbahn-System die Kapazitäten der DDR übersteigt und das kombinierte Strassenbahn-/ Bus-System weiter zu entwickeln sei, die Trassen für eine zukünftige ESB aber freigehalten werden sollten. Das war der offizielle Abgesang eines Vorhabens, welches drei Jahre lang der Stadt Jena Träume, Wünsche, Vorstellungen und viele Planungen für ein modernes Nahverkehrssystem beschert hatte.

(Konrad Spath)


So stellten sich dei Planer die Einschienenbahn in einem Neubaugebiet vor.

Aus JeNah Aktuell 02-2 und 02-03
http://www.jenah.de/
Jenaer Verkehrsgesellschaft mbH, Dornburger-Str. 17, 07743 Jena

mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers


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