- Betreff: Bericht:
ALWEG-Bahn-Planungen in der DDR (Beispiel Jena)
-
-
Beim Jenaer Nahverkehrstag am
20.4. stellte der Verkehrshistoriker Konrad Spath seine
Forschungsergebnisse zum Titelthema vor, wobei einige
Detailunterlagen erst vor ganz kurzer Zeit und andere noch gar
nicht aufgetaucht sind. Alle Pläne unterlagen zur DDR-Zeit
hohen Geheimhaltungsstufen (ab VD). Was aber bekannt ist,
liefert ein bisher fast unbekanntes Teilbild der
DDR-Verkehrsgeschichte.
Einige Leser der NG mag es
interessieren. -
Wobei sich die Frage stellt: Ist
man in anderen DDR-Städten auch so weit gekommen?
-
-
Vorgeschichte:
-
-
Jena sollte, nach dem Willen der
DDR-Regierung, ab Mitte der 60er Jahre zum zentralen
Hightech-Standort des Ostblocks ausgebaut werden, verbunden mit
Steigerung der Einwohnerzahl von ca. 90.000 Ende der 60er Jahre
auf 135.000 um 1980 und weiterer Steigerung auf 200.000. Man
nahm an, dass die vorhandene ÖPNV-Struktur (meterspuriges
Straßenbahnnetz mit ergänzenden Buslinien) dem zu
erwartenden Verkehrsbedarf nicht genügen könne, und
untersuchte neue Varianten. 1966 entstand ein
Nahverkehrsgutachten für Jena.
-
-
Die damalige
Variantenuntersuchung ähnelt verblüffend der
Standardisierten Bewertung des Jenaer ÖPNV von 1993 in
Vorbereitung der Tram-Rekonstruktion; in beiden Fällen
wurde nicht nur die Neubaustrecke, sondern das Gesamtnetz
bewertet.
-
Durchgerechnet wurden 1968
ein reines Straßenbahnnetz ganz ohne Bus (Muster Plauen),
ein reines Busnetz, ein kombiniertes Tram-/Busnetz ähnlich
dem heutigen, ein S-Bahn-Verkehr auf Eisenbahngleisen mit
Neubaustrecke Göschwitz - Lobeda-Ost und eine Kombination
ALWEG-Bahn mit ergänzenden Buslinien. In allen Fällen
ging man davon aus, dass der Jenaer Stadtverkehr zwischen Kunitz
im Norden (1994 eingemeindet) und Rothenstein im Süden (bis
heute im Landkreis) verlaufen sollte. Schließlich wurde
der ALWEG-Bahn der planerische Vorzug gegeben - die Variante
sollte baumäßig 84 Mio M teurer sein als das
Tram-/Bus-Kombinetz, die sich durch Betriebskosteneinsparung
aber nach 14 Jahren amortisiert haben sollten. Es entstand ein
bis ins kleinste Detail durchgerechnetes Projekt, das in dieser
Art heute nicht besser zu machen wäre. -
-
Die Studie war im April 1969
fertig, wobei alle verfügbare Literatur aus dem "Westen"
mit ausgewertet wurde. Sie enthielt Lagepläne, exakte
Berechnungen von Fahrdynamik und Kapazität sowie alle
nötigen technischen Detaillösungen. Die Bearbeitung
erfolgte durch die Forschungsstelle des Straßenwesens beim
DDR-Verkehrsministerium (damals für ÖPNV zuständig)
und war direkt durch das Ministerium zu kontrollieren; die
Projektgruppe war in Jena angesiedelt. Baubeginn war auf 1976
angesetzt, die Bauzeit auf 2,5 Jahre (!), die Kosten auf 164 -
175 Mio Mark der DDR. In den Unterlagen wird ausdrücklich
erwähnt, dass alle wesentlichen Bestandteile des Systems
patentrechtlich geschützt und entsprechende Lizenzgebühren
an die ALWEG-Gesellschaft eingeplant sind. Die Anlage sollte
Prototyp-Charakter für den gesamten Ostblock haben. Ein bis
ins Einzelne gehender Bauzeitplan wurde erstellt.
-
-
Die beabsichtigte
Streckenführung ist auf großmaßstäbigen
Lageplänen dargestellt, die heute noch erhalten sind. Eine
einzige Strecke, mit jedoch durchdacht gelegenen Halten, sollte
alle Wohn- und Arbeitsplatz-Schwerpunkte Jenas verbinden. Eine
Netzstruktur war vor allem wegen der problematischen
Weichenkonstruktion nicht vorgesehen.
-
-
Streckenführung:
-
-
(Wer die Lokalität nicht
kennt, kann möglicherweise leider mit der Beschreibung
wenig anfangen.) Nördlicher Startpunkt war
-
* Löbstedt (am
Studentenwohnheim zwischen Löbstedt und Zwätzen,
weitere Halte sollten sein:
-
* Nord II (Appartementhaus
Schützenhofstr. 91/REWE-Kaufhalle)
-
* Nord I (Munketal unterhalb des
Nordfriedhofs)
-
* Dornburger Str. (Grünanlage
Ecke Sophien-/Dornburger Str.)
-
* Goethealle (heute
Fürstengraben) in Nordverlängerung, am Angergymnasium
-
* Paradiesbahnhof (dann ggf.
Tunnelstrecke)
-
* Westbahnhof (ein Stück
oberhalb, am Schott-Eingang)
-
* Tatzendpromenade (altes
Zeiss-Südwerk, heute Haupteingang FH)
-
* Beutenberg
(ZIMET-Haupteingang)
-
* Winzerla/Bahnbrücke
Grenzstraße (Schott-Quarzglaswerk)
-
* Bahnhof Göschwitz
-
* Lobeda-West (heute Kaufland)
-
* Lobeda-Ost II (heute
Platanenstr.)
-
* Lobeda-Ost I (heutiger
Tram-Endpunkt), dahinter Depot.
-
-
Man mache sich seinen eigenen
Reim darauf - am Problem, keine wirklich leistungsfähigen
Verkehrsmittel auf die Berge zu bekommen (auf denen aber gerade
viel Industrie und Forschung lokalisiert ist und auch sehr gern
gewohnt wird), krankt Jena bis heute, und dem sollte abgeholfen
werden. Eine zweite Innenstadt-Variante sollte vom Halt
Dornburger Str. geradeaus durch Sophien- und Weigelstr. über
den Holzmarkt zum Paradiesbahnhof laufen, wurde aber wegen
Beeinträchtigung des Damenviertels (Tunnelstrecke wurde
erwogen, aber zu teuer) verworfen. Um die negativen Effekte der
aufgeständerten Bauweise im Wohngebiet Süd in Grenzen
zu halten (Abdunklung der Straßen; der Betonfahrweg wirkt
sehr klotzig), erwog man auch ab Bf Jena-West die
Parallelführung zur Eisenbahn bis Ringwiese, weiter neben
der B88 bis Winzerla, mit Halten an Mühlenstr. und
Ammerbacher Str. Damit hätten sich aber für Schott-,
Zeiss-Südwerk- und ZIMET- Beschäftigte viel längere
Fußwege zwischen Bahnhof und Werktor ergeben. M.E. war die
erste Variante optimal.
-
-
Fahrweg:
-
-
Der Fahrweg sollte aus
Betonbalken, -stützen und portalen bestehen, im
Winter beheizt sein, max. 9,23% Steigung haben und 75 km/h
erlauben. Für die Fertigung waren Betonwerke in und nahe
Jena vorgesehen, da man damit rechnete, dass nach 1975 deren
Auslastung durch Abnahme des Wohnungsbaus (das Gegenteil trat
dann ein) zurück gehe. Stromsystem 1200 V Gleichstrom über
Stromschiene, es wurde aber bereits über magnetisches
Schweben und Linearmotorantrieb (= Transrapid-Technik)
diskutiert. Problematisch waren die Weichen: es sollte
Biegeweichen (mit 30 km/h befahrbar) und Gelenkweichen (15 km/h)
geben, Umstellzeit je 60 s. Es war LZB vorgesehen.
-
-
Fahrzeuge:
-
-
Geplant waren 28 bis 30 ca. 27,5
m lange und reichlich 3 m breite Doppeltriebwagen mit
Jakobsdrehgestell, wobei ein Originalentwurf der
ALWEG-Gesellschaft (zum Vergleich gezeigt) praktisch 1:1
übernommen wurde. Diese sollten nach erster Planung direkt
im Westen bestellt, dann bei LEW in Lizenz gebaut werden. Die
Gummireifen müssten auch dann direkt bei Michelin
eingekauft werden. Eine Einheit sollte 320 Fahrgäste fassen
(Stehplatzfaktor 0,15 m² je Person). Zunächst wurde
diskutiert, ob man die Fahrerstände wegen des geplanten
automatischen Betriebs weglassen könne, im späteren
Entwurf blieben sie.
-
-
Verkehr, Fahrplan:
-
-
Ein Bahnhof sollte ca. 600 m
Einzugsradius haben, was für das bergige Gelände nach
heutiger Maßgabe eindeutig zuviel ist. Die ca. 16 km lange
Strecke sollte einschl. Endstellen nur 14 Halte haben, was zu
m.E. mangelhafter Erschließung der Gebiete direkt an der
Strecke geführt hätte (und in Jena Tradition hat,
Haltestellenabstände von 800 - 1000 m waren hier auch bei
der Straßenbahn normal). Was der Fahrgast durch die hohe
Geschwindigkeit der ALWEG-Bahn an Zeit gewann, hätte er
durch lange Wege zu den Haltestellen wieder verloren. Man ging
von 24.000 Beförderungsfällen in der Spitzenstunde
aus. Gefahren werden sollte von 5 bis 1 Uhr in Taktabständen
zwischen 4 und 20 min. Der Takt sollte fast permanent
entsprechend der tatsächlichen Nachfrage wechseln, wohl um
Laufkilometer der Fahrzeuge zu sparen. Dafür war ggf. ein
zweites Depot in Löbstedt geplant.
-
-
Was wurde aus dem Projekt?
-
-
Richtig an die Öffentlichkeit
kam es nie, obwohl es im ständigen Stadtmodell (in einem
Ausstellungsraum neben Fahrrad-Kirscht aufgestellt) schon
eingearbeitet war (über diese Teile kamen dann Tücher,
um den Blick zu verwehren). 1970 waren bei einer erneuten
Berechnung die Kosten von 175 auf 285 Mio M angewachsen -
heutige Projekte, z.B. Transrapid, lassen grüßen.
Nach dem Führungswechsel in der SED 1971 erhielt der Jenaer
OB ein vom 18.8.71 datiertes Schreiben aus dem
Verkehrsministerium (nur vom Staatssekretär unterzeichnet),
worin das ALWEG-Projekt als unnötig erachtet und offiziell
abgeblasen wird; das Tram-/Bus- Mischsystem genüge auch für
die Zukunft allen Anforderungen. Die Trassen für die
Einschienenbahn sollten aber frei gehalten werden. Die
Projektgruppe wurde zur Außenstelle des ZFIV (Zentrales
Forschungsinstitut des Verkehrswesens) und wurde Anfang der 90er
Jahre aufgelöst.
|