ALWEG-Planungen in der DDR


Von Thomas Wedekind, Jena


Quelle: Internetseiten JeNah


Betreff: Bericht: ALWEG-Bahn-Planungen in der DDR (Beispiel Jena)

Beim Jenaer Nahverkehrstag am 20.4. stellte der Verkehrshistoriker Konrad Spath seine Forschungsergebnisse zum Titelthema vor, wobei einige Detailunterlagen erst vor ganz kurzer Zeit und andere noch gar nicht aufgetaucht sind. Alle Pläne unterlagen zur DDR-Zeit hohen Geheimhaltungsstufen (ab VD). Was aber bekannt ist, liefert ein bisher fast unbekanntes Teilbild der DDR-Verkehrsgeschichte.

Einige Leser der NG mag es interessieren.
Wobei sich die Frage stellt: Ist man in anderen DDR-Städten auch so weit gekommen?

Vorgeschichte:

Jena sollte, nach dem Willen der DDR-Regierung, ab Mitte der 60er Jahre zum zentralen Hightech-Standort des Ostblocks ausgebaut werden, verbunden mit Steigerung der Einwohnerzahl von ca. 90.000 Ende der 60er Jahre auf 135.000 um 1980 und weiterer Steigerung auf 200.000. Man nahm an, dass die vorhandene ÖPNV-Struktur (meterspuriges Straßenbahnnetz mit ergänzenden Buslinien) dem zu erwartenden Verkehrsbedarf nicht genügen könne, und untersuchte neue Varianten. 1966 entstand ein Nahverkehrsgutachten für Jena.

Die damalige Variantenuntersuchung ähnelt verblüffend der Standardisierten Bewertung des Jenaer ÖPNV von 1993 in Vorbereitung der Tram-Rekonstruktion; in beiden Fällen wurde nicht nur die Neubaustrecke, sondern das Gesamtnetz bewertet.

Durchgerechnet wurden 1968 ein reines Straßenbahnnetz ganz ohne Bus (Muster Plauen), ein reines Busnetz, ein kombiniertes Tram-/Busnetz ähnlich dem heutigen, ein S-Bahn-Verkehr auf Eisenbahngleisen mit Neubaustrecke Göschwitz - Lobeda-Ost und eine Kombination ALWEG-Bahn mit ergänzenden Buslinien. In allen Fällen ging man davon aus, dass der Jenaer Stadtverkehr zwischen Kunitz im Norden (1994 eingemeindet) und Rothenstein im Süden (bis heute im Landkreis) verlaufen sollte. Schließlich wurde der ALWEG-Bahn der planerische Vorzug gegeben - die Variante sollte baumäßig 84 Mio M teurer sein als das Tram-/Bus-Kombinetz, die sich durch Betriebskosteneinsparung aber nach 14 Jahren amortisiert haben sollten. Es entstand ein bis ins kleinste Detail durchgerechnetes Projekt, das in dieser Art heute nicht besser zu machen wäre.

Die Studie war im April 1969 fertig, wobei alle verfügbare Literatur aus dem "Westen" mit ausgewertet wurde. Sie enthielt Lagepläne, exakte Berechnungen von Fahrdynamik und Kapazität sowie alle nötigen technischen Detaillösungen. Die Bearbeitung erfolgte durch die Forschungsstelle des Straßenwesens beim DDR-Verkehrsministerium (damals für ÖPNV zuständig) und war direkt durch das Ministerium zu kontrollieren; die Projektgruppe war in Jena angesiedelt. Baubeginn war auf 1976 angesetzt, die Bauzeit auf 2,5 Jahre (!), die Kosten auf 164 - 175 Mio Mark der DDR. In den Unterlagen wird ausdrücklich erwähnt, dass alle wesentlichen Bestandteile des Systems patentrechtlich geschützt und entsprechende Lizenzgebühren an die ALWEG-Gesellschaft eingeplant sind. Die Anlage sollte Prototyp-Charakter für den gesamten Ostblock haben. Ein bis ins Einzelne gehender Bauzeitplan wurde erstellt.

Die beabsichtigte Streckenführung ist auf großmaßstäbigen Lageplänen dargestellt, die heute noch erhalten sind. Eine einzige Strecke, mit jedoch durchdacht gelegenen Halten, sollte alle Wohn- und Arbeitsplatz-Schwerpunkte Jenas verbinden. Eine Netzstruktur war vor allem wegen der problematischen Weichenkonstruktion nicht vorgesehen.

Streckenführung:

(Wer die Lokalität nicht kennt, kann möglicherweise leider mit der Beschreibung wenig anfangen.) Nördlicher Startpunkt war
* Löbstedt (am Studentenwohnheim zwischen Löbstedt und Zwätzen, weitere Halte sollten sein:
* Nord II (Appartementhaus Schützenhofstr. 91/REWE-Kaufhalle)
* Nord I (Munketal unterhalb des Nordfriedhofs)
* Dornburger Str. (Grünanlage Ecke Sophien-/Dornburger Str.)
* Goethealle (heute Fürstengraben) in Nordverlängerung, am Angergymnasium
* Paradiesbahnhof (dann ggf. Tunnelstrecke)
* Westbahnhof (ein Stück oberhalb, am Schott-Eingang)
* Tatzendpromenade (altes Zeiss-Südwerk, heute Haupteingang FH)
* Beutenberg (ZIMET-Haupteingang)
* Winzerla/Bahnbrücke Grenzstraße (Schott-Quarzglaswerk)
* Bahnhof Göschwitz
* Lobeda-West (heute Kaufland)
* Lobeda-Ost II (heute Platanenstr.)
* Lobeda-Ost I (heutiger Tram-Endpunkt), dahinter Depot.

Man mache sich seinen eigenen Reim darauf - am Problem, keine wirklich leistungsfähigen Verkehrsmittel auf die Berge zu bekommen (auf denen aber gerade viel Industrie und Forschung lokalisiert ist und auch sehr gern gewohnt wird), krankt Jena bis heute, und dem sollte abgeholfen werden. Eine zweite Innenstadt-Variante sollte vom Halt Dornburger Str. geradeaus durch Sophien- und Weigelstr. über den Holzmarkt zum Paradiesbahnhof laufen, wurde aber wegen Beeinträchtigung des Damenviertels (Tunnelstrecke wurde erwogen, aber zu teuer) verworfen. Um die negativen Effekte der aufgeständerten Bauweise im Wohngebiet Süd in Grenzen zu halten (Abdunklung der Straßen; der Betonfahrweg wirkt sehr klotzig), erwog man auch ab Bf Jena-West die Parallelführung zur Eisenbahn bis Ringwiese, weiter neben der B88 bis Winzerla, mit Halten an Mühlenstr. und Ammerbacher Str. Damit hätten sich aber für Schott-, Zeiss-Südwerk- und ZIMET- Beschäftigte viel längere Fußwege zwischen Bahnhof und Werktor ergeben. M.E. war die erste Variante optimal.

Fahrweg:

Der Fahrweg sollte aus Betonbalken, -stützen und –portalen bestehen, im Winter beheizt sein, max. 9,23% Steigung haben und 75 km/h erlauben. Für die Fertigung waren Betonwerke in und nahe Jena vorgesehen, da man damit rechnete, dass nach 1975 deren Auslastung durch Abnahme des Wohnungsbaus (das Gegenteil trat dann ein) zurück gehe. Stromsystem 1200 V Gleichstrom über Stromschiene, es wurde aber bereits über magnetisches Schweben und Linearmotorantrieb (= Transrapid-Technik) diskutiert. Problematisch waren die Weichen: es sollte Biegeweichen (mit 30 km/h befahrbar) und Gelenkweichen (15 km/h) geben, Umstellzeit je 60 s. Es war LZB vorgesehen.

Fahrzeuge:

Geplant waren 28 bis 30 ca. 27,5 m lange und reichlich 3 m breite Doppeltriebwagen mit Jakobsdrehgestell, wobei ein Originalentwurf der ALWEG-Gesellschaft (zum Vergleich gezeigt) praktisch 1:1 übernommen wurde. Diese sollten nach erster Planung direkt im Westen bestellt, dann bei LEW in Lizenz gebaut werden. Die Gummireifen müssten auch dann direkt bei Michelin eingekauft werden. Eine Einheit sollte 320 Fahrgäste fassen (Stehplatzfaktor 0,15 m² je Person). Zunächst wurde diskutiert, ob man die Fahrerstände wegen des geplanten automatischen Betriebs weglassen könne, im späteren Entwurf blieben sie.

Verkehr, Fahrplan:

Ein Bahnhof sollte ca. 600 m Einzugsradius haben, was für das bergige Gelände nach heutiger Maßgabe eindeutig zuviel ist. Die ca. 16 km lange Strecke sollte einschl. Endstellen nur 14 Halte haben, was zu m.E. mangelhafter Erschließung der Gebiete direkt an der Strecke geführt hätte (und in Jena Tradition hat, Haltestellenabstände von 800 - 1000 m waren hier auch bei der Straßenbahn normal). Was der Fahrgast durch die hohe Geschwindigkeit der ALWEG-Bahn an Zeit gewann, hätte er durch lange Wege zu den Haltestellen wieder verloren. Man ging von 24.000 Beförderungsfällen in der Spitzenstunde aus. Gefahren werden sollte von 5 bis 1 Uhr in Taktabständen zwischen 4 und 20 min. Der Takt sollte fast permanent entsprechend der tatsächlichen Nachfrage wechseln, wohl um Laufkilometer der Fahrzeuge zu sparen. Dafür war ggf. ein zweites Depot in Löbstedt geplant.

Was wurde aus dem Projekt?

Richtig an die Öffentlichkeit kam es nie, obwohl es im ständigen Stadtmodell (in einem Ausstellungsraum neben Fahrrad-Kirscht aufgestellt) schon eingearbeitet war (über diese Teile kamen dann Tücher, um den Blick zu verwehren). 1970 waren bei einer erneuten Berechnung die Kosten von 175 auf 285 Mio M angewachsen - heutige Projekte, z.B. Transrapid, lassen grüßen. Nach dem Führungswechsel in der SED 1971 erhielt der Jenaer OB ein vom 18.8.71 datiertes Schreiben aus dem Verkehrsministerium (nur vom Staatssekretär unterzeichnet), worin das ALWEG-Projekt als unnötig erachtet und offiziell abgeblasen wird; das Tram-/Bus- Mischsystem genüge auch für die Zukunft allen Anforderungen. Die Trassen für die Einschienenbahn sollten aber frei gehalten werden. Die Projektgruppe wurde zur Außenstelle des ZFIV (Zentrales Forschungsinstitut des Verkehrswesens) und wurde Anfang der 90er Jahre aufgelöst.

Der Bericht entstand nach den Notizen während des Vortrags, ich übernehme keine Gewähr für absolute Übereinstimmung der Fakten mit dem Manuskript des Redners.

T.W.

Datum: Sun, 21 Apr 2002 19:40:39 +0200
Foren: de.etc.bahn.historisch