Am Bahnhof Liblar um 1910

Der Herr mit dem langen Arm

Von Dr. Ernst Winter


Es war zu jener Zeit, da die jetzt sechzigjährigen Opas in der Lehre waren oder nach Brühl und Euskirchen „op de huuh Scholl“ fuhren und schon im Alter von zehn Jahren als „Studente“ tituliert wurden.

Damals herrschte sogar bei der allzeit pünktlichen Reichsbahn (jetzt Bundesbahn) die gemütliche Note. Man lebte noch vor dem Zeitalter der nüchternen, unpersönlichen Sachlichkeit.

Diese geruhsame Einstellung zum Leben brachte manchmal einen braven Bahnbeamten in Konflikt mit der gebotenen, unbarmherzigen Pflicht zur Pünktlichkeit.

Und so ist es zu erklären, daß der Schalterbeamte in beneidenswerter Seelenruhe erst dann die Sperre öffnete, wenn der Zug schon auf dem Bahnsteig abbremste. Diese Tatsache gründete keineswegs auf einem Schlendrian, sondern auf einem echten menschlichen Mitgefühl jenes Beamten; denn er hatte in Peronalunion auch den Fahrkartenschalter zu betreuen und hielt diese Stellung bis zum letzten Augenblick, um auch noch einen verspäteten Reisenden mit der nötigen Fahrkarte ausrüsten zu können, die er dann kurz darauf an der Sperre ordnungsgemäß mit der Knipszange zu lochen hatte.

Die Liblarer und alle, die des öfteren diese Strecke befuhren, wußten von der tragischen Zerrissenheit jenes braven Mannes, der sich zwischen zwei widersprechende Pflichten gestellt sah und dieses Problem mit wahrer Seelengröße und würdevoller Gelassenheit meisterte.

Eines Tages aber löste, zehn Minuten vor Abgang des Zuges, ein kleiner, spitzbäuchiger Herr eine Karte II. Klasse nach Köln-Hauptbahnhof und wartete nervös und ungeduldig auf das Öffnen der Sperre. Von Minute zu Minute wurde er zappliger und ungeduldiger, trippelte hin und her und geriet vollends aus dem Häuschen, als der Zug herandampfte und die Sperre immer noch nicht geöffnet war.

Endlich schlurfte der brave Beamte heran, schloß die Sperre auf und zückte die Knipszange, während der Zug bereits auf dem Bahnsteig hielt.

Der aufgeregte, kleine Dicke preschte, außer sich vor Entrüstung, heran, präsentierte seine Fahrkarte und schnaubte: „Eine Schlamperei ist das! Sowas habe ich noch niemals erlebt! Sie sind verpflichtet, die Sperre spätestens drei Minuten vor Angang des zuges zu öffnen! Ich werde mich an geeigneter Stelle über Sie beschweren! Ich habe einen Arm, der sehr weit reicht!“ Dann stürmt er zu dem wartenden Zug und enterte in völlig unnötiger Hast ein Abteil II. Klasse.

Als er die Tür zuschlagen wollte, hielt ein grauhaariger Gutsbesitzer aus Blessem den Türflügen zurück und rief von unten: „Net esu jiehöstig! Ech well doch ooch nooh Kölle, Do Kribitzi-Manes!“

Steifbeinig kletterte der Alte über die Holztritte zum Abteil hinauf, schlug die Tür krachend zu und ließ sich schnaufend auf das Sitzpolster sinken. Ohne sich um die abweisenden Blicke seines vornehmen Gegenübers zu kümmern, zog er ein mächtiges, knallrotes Taschentuch hervor, wischte sich über die Stirn, schnäuzte sich geräuschvoll, wenn auch noch ziemlich kurzatmig, und meinte schließlich: „Moodzaprament, leeven Häär, mr spüürt tatsächlich, dat mr en de Joahre kütte! Ech han biestig met dr Jeech zu doohn! Dat es jet Lästiges, kann ech Üch saje.“

Mit diesen Worten zog er eine Flasche aus seinem Knollenrock, entkorkte sie und griemelte: „E Jlöck, dat mr noch e Dröppche als Truuß hätt! Domet kann mr sich emme helpe! - Wohlt Ühr ooch ens e bessche drahn pettsche?!

Freigebig hielt er seinem Gegenüber die Flasche hin und nahm es nicht übel, daß der kleine, piekfeine Dicke das Angebot allzu heftig ablehnte.

„Mr sahl keener zwenge“, meinte er, genehmigte sich einen ausgiebigen Schluck, schob die sorgsam verkorkte Flasche wieder in die Tasche und leckte sich wohlig über die Lippen. Dann stemmte er seine mächtigen, schwieligen Hände auf die Knie, beugte sich vertraulich vor und sagte: „Wat ech noch saaje woohlt, leeven Häär! Ech han ävvens zofälleg jehüürt, wie Ür für dä Bahnbeamte jesaht hat, daß Ühr 'einen Arm habt, der sehr weit reicht'! On do woolt ech Üch om ene Jefalle froage: Mr es nämlich diss Morje de Pief en de Abtrett jefalle! Künnt Ühr die net met Ührem langen Ärm erusholle?“ ..

(Diese Geschichte ist nicht erfunden, sondern wirklich passiert! Was der vornehme Dicke erwidert hat, ist allerdings nicht überliefert worden! - Vermutlich nichts!)

Entnommen: Heimatkalender des Kreises Euskirchen 1961

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